Numerus in der Nominalphrase

Die Numeruskategorie (Singular oder Plural) ist immer auf die gesamte Phrase zu beziehen. In Nominalphrasen wird sie im Zusammenspiel von drei Einheiten ausgedrückt: dem Artikel, dem attributiven Adjektiv und dem Kopfnomen. Zwar heißt es, zwischen diesen Einheiten bestehe im Hinblick auf den Numerus Kongruenz. Dies bedeutet aber bei weitem nicht, dass jede dieser Einheiten für sich den Numerus eindeutig ausdrücken kann. Ist in einer Nominalphrase eine Numeruskategorie überhaupt eindeutig ausgedrückt, wird dies durch die genannten Einheiten zum Teil erst im Verbund geleistet:

der (Singular oder Plural?) + zerbrochenen (Singular oder Plural?) + Spiegel (Singular oder Plural?) = [der zerbrochenen Spiegel] (Plural!)

Nachfolgend wird gezeigt, wie die Numeruskategorie in der Nominalphrase ausgedrückt wird, vor allem, wie sich die einzelnen Bestandteile der Nominalphrase daran beteiligen.

Numerusanzeige durch Nomen

Betrachtet man die Bestandteile der Nominalphrase jeweils isoliert, so ist die Form des Kopfnomens besonders zuverlässig, wenn es um den eindeutigen Ausdruck der Numeruskategorie geht. Formal ausgezeichnet wird dabei die Pluralform des Nomens, die Singularform bleibt als Standardform ohne explizite Numerusmarkierung (vgl. Agglutinierende Suffigierung). Als Pluralendungen kommen -e, -en, -n, -s und -er in Frage, daneben kann der Plural auch durch Umlaut markiert werden (meist kombiniert mit einer Pluralendung). Wortformen wie die folgenden lassen sich ohne weitere Informationen eindeutig dem Singular bzw. dem Plural zuordnen:

SingularPlural
ErkenntnisErkenntniss-e
HemdHemd-en
KircheKirche-n
OmaOma-s
KindKind-er
BandBänd-er
MutterMütter

Auch Wortformen wie Spiegeln sind eindeutig hinsichtlich des Numerus. Allerdings handelt es sich bei der Endung -n in Spiegel-n um keine Pluralendung (im Pluralparadigma desselben Lexems gibt es ja auch die endungslose Wortform Spiegel), sondern um ein Dativkennzeichen, das nur im Plural erscheint. Die Wortform Spiegel wiederum ist ein Beispiel dafür, dass nominale Wortformen isoliert betrachtet im Hinblick auf den Numerus auch ambig sein können. Dabei handelt es sich nur um bestimmte Maskulina und Neutra. Notorisch ist die Numerusambiguität bei Nomina, die dem Pluraltyp 1 angehören, also wie Spiegel ohne Pluralsuffix auftreten, z. B.:

Spiegel - Sg, Nom/Akk/Dat oder Pl, Nom/Akk/Gen?
Wagen - Sg, Nom/Akk/Dat oder Pl, Nom/Akk/Dat/Gen?

Außerdem können Wortformen derjenigen Nomina numerusambig sein, bei denen die gleiche Endung, die im Plural markiert, auch im Singular gebraucht wird, um dort bestimmte Kasus zu markieren. Dies ist insbesondere bei Maskulina des Typs B bzw. des Pluraltyp 2 der Fall, die (im Singular zumindest teilweise) schwach flektiert werden, vgl.:

Löwe-n, Mensch-en - Sg, Akk/Dat/Gen oder Pl, Nom/Akk/Dat/Gen?

und tritt außerdem bei Maskulina und Neutra ohne Pluralumlaut und mit der Pluralendung -s (Pluraltyp 3) oder -ePluraltyp 4) ein, z. B.:

Azubis, Babys - Sg, Gen oder Pl, Nom/Akk/Dat/Gen?
Tage, Boote - Sg, Dat oder Pl, Nom/Akk/Gen?

Die Endungen -n, -en, -s und -e erscheinen also in der Deklination der Nomina als polyfunktional, weil sie zum einen ein Numerusmarker, zum anderen ein Kasusmarker sein können. Allerdings ist das „Dativ-e“ heutzutage kaum mehr gebräuchlich, sodass Ambiguitäten bei Formen wie Tage (siehe oben) nicht ins Gewicht fallen.

Numerusanzeige durch Artikel oder stark flektiertes Adjektiv

Die lexikalische Differenzierung des Possessiv-Artikels nach dem "Possessor" (mein - unser usw.) wird hier nicht behandelt. Sie zeigt die gleichen Besonderheiten wie die lexikalische Differenzierung des Possessiv-Pronomens (vgl. Numerus in der Pronominalphrase).

Nach Numerus flektierende Artikel und Adjektive in starker Flexion lassen - isoliert betrachtet - nur dann die Numeruskategorie der Nominalphrase erkennen, wenn sie endungslos sind oder wenn sie auf -em oder -es (bzw. -as in das) ausgehen. Durch die Endung wird zwar eigentlich die Kasuskategorie bzw. die Genuskategorie angezeigt, implizit wird aber auch die Numeruskategorie, und zwar auf „Singular“, festgelegt. Die restlichen Wortformen im nominalen Bereich, die auf -e (bzw. -ie in die), -en oder -er enden, sind für sich genommen im Hinblick auf den Numerus ambig, denn sie können sowohl im Singular als auch im Plural gebraucht werden. Man vergleiche zur Veranschaulichung folgende Tabellen zu definitem Artikel, Quantifikativ-Artikel kein und stark flektiertem Adjektiv gut, in denen die numerusambigen Fälle fettgedruckt sind:

Artikel und Adjektiv

Nur die Formen auf -e (bzw. -ie in die) und -er können im Singular und im Plural auf die gleichen Kasuskategorien bezogen werden (vgl. die rot markierten Stellen in den Tabellen). Einige Numerusambiguitäten werden im Sprachgebrauch also bereits dadurch verhindert, dass aufgrund klarer Rektionsverhältnisse die Kasuskategorie der Nominalphrase von vornherein bekannt ist. Die Formen auf -e bzw. -ie erscheinen im Singular nur bei den Feminina und können - wie im Plural - auf den Nominativ oder den Akkusativ bezogen werden. Sie bleiben somit isoliert betrachtet immer numerusambig. Die Formen auf -er erscheinen im Singular bei den Feminina im Dativ und im Genitiv und teilweise bei den Maskulina im Nominativ, im Plural treten sie nur im Genitiv auf. Ist die Kasuskategorie der Nominalphrase im Voraus bekannt, kann also der Artikel bzw. das attributive Adjektiv auf -er nur dann numerusambig sein, wenn es sich um die Kasuskategorie Genitiv handelt.

Numerusanzeige in mehrgliedriger Nominalphrase

Nominalphrasen aus einem Nomen und einem Artikel oder einem attributiven Adjektiv sind hinsichtlich des Numerus fast immer eindeutig. Ist eine der Konstituenten der Nominalphrase isoliert betrachtet numerusambig, so ist das meist der Artikel oder das attributive Adjektiv. Das Nomen sorgt dann für Desambiguierung der Numeruskategorie und kann im Singular durch explizite Kasusmarkierung oder durch Genusvorgabe auch die Wahl der Kasuskategorie einschränken, vgl.:

den/keinen/guten (ambig) + Wein (Sg) = [den/keinen/guten Wein] (Sg, Akk)
guten (ambig) + Weins/Wassers (Sg, Gen) = [guten Weins/Wassers] (Sg, Gen)
den/keinen/guten (ambig) + Weinen/Kindern/Frauen (Pl) = [den/keinen/guten Weinen/Kindern/Frauen] (Pl, Dat)

der/guter (ambig) + Wein (Sg) = [der/guter Wein] (Sg, Nom)
der/guter (ambig) + Frau (Sg) = [der/guter Frau] (Sg, Dat/Gen)
keiner (ambig) + Frau (Sg) = [keiner Frau] (Sg, Dat/Gen)
der/keiner/guter (ambig) + Weine/Kinder/Frauen (Pl) = [der/keiner/guter Weine/Kinder/Frauen/] (Pl, Gen)

die/keine/gute (ambig) + Frau (Sg) = [die/keine/gute Frau] (Sg, Nom/Akk)
die/keine/gute (ambig) + Weine/Kinder/Frauen (Pl) = [die/keine/gute Weine/Kinder/Frauen] (Pl, Nom/Akk)

Wohlgemerkt, die Formen des Artikels bzw. des Adjektivs auf -er und -e (bzw. -ie in die), die im femininen Singularparadigma auf die gleichen Kasuskategorien wie im Plural bezogen werden können (vgl. weiter oben), bereiten keine Probleme mehr in Verbindung mit femininen Nomina, da bei diesen der Plural konsequent markiert wird.

Ist die Nomenform ambig, kann im Falle des Singulars aber auch der Artikel oder das stark flektierte Adjektiv die Numeruskategorie (und u. U. auch die Kasuskategorie) der Verbindung erkennen lassen, z. B.:

kein (Sg, Nom/Akk) + Spiegel/Wagen (ambig) = [kein Spiegel/Wagen] (Sg, Nom)
dem/keinem/gutem (Sg, Dat) + Spiegel/Wagen/Menschen/Tage (ambig) = [dem/keinem/gutem Spiegel/Wagen/Menschen/Tage] (Sg, Dat)
des/keines (Sg, Gen) + Menschen/Azubis/Babys (ambig) = [des/keines Menschen/Azubis/Babys] (Sg, Gen)

Sind schließlich beide Konstituenten der Nominalphrase isoliert betrachtet numerusambig, kann sich die Eindeutigkeit der Numeruskategorie der Nominalphrase daraus ergeben, dass die Durchschnittsmenge der Paradigmenstellen, die von den beteiligten Wortformen jeweils vertreten werden können, entweder nur singularisch oder nur pluralisch ist, vgl.:

den/keinen/guten (ambig) + Spiegel (ambig) = [den/keinen/guten Spiegel] (Sg, Akk)
den/keinen (ambig) + Azubis/Babys (ambig) = [den/keinen Azubis/Babys] (Pl, Dat)
der/keiner/guter (ambig) + Menschen/Azubis/Babys/Tage (ambig) = [der/keiner/guter Menschen/Azubis/Babys/Tage] (Pl, Gen))
die/keine/gute (ambig) + Spiegel/Wagen/Menschen/Azubis/Babys/Tage (ambig) = [die/keine/gute Spiegel/Wagen/Menschen/Azubis/Babys/Tage] (Pl, Nom/Akk)

Ambig bleiben zweigliedrige Nominalphrasen nur in Fällen wie:

den/keinen/guten Wagen/Menschen - Sg, Akk oder Pl, Dat?
guten Azubis/Babys - Sg, Gen oder Pl, Dat?
der/guter Spiegel/Wagen - Sg, Nom oder Pl, Gen?

Fälle, die der ersten Beispielreihe entsprechen, bleiben immer ambig, auch wenn in einer Nominalphrase sowohl ein Artikel als auch ein attributives Adjektiv auftreten. Die übrigen Fälle dagegen werden desambiguiert, vgl.

den/keinen guten Wagen/Menschen - Sg, Akk oder Pl, Dat?
des/keines guten Azubis/Babys - Sg, Gen und den/keinen guten Azubis/Babys - Pl, Dat
der gute Spiegel/Wagen - Sg, Nom und der guten Spiegel/Wagen - Pl, Gen

Die Ambiguität zwischen Akkusativ Singular und Dativ Plural bei Nomina wie Wagen oder Mensch kann nur in größeren Syntagmen aufgelöst werden, und zwar über die vom finiten Verb oder von einer Präposition regierte Kasuskategorie. Allerdings kann es auch Sätze geben, in denen die Ambiguität grammatisch gesehen bestehen bleibt und nur aufgrund des Kontextes aufgelöst werden kann:

Er hat den Wagen den Menschen verkauft.

Hier kann unter Rückgriff auf Weltwissen den Wagen als Akkusativ Singular und den Menschen als Dativ Plural kategorisiert werden - und nicht umgekehrt.

Zusammenfassung

Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die Numeruskategorie einer komplexen Nominalphrase mit wenigen Ausnahmen bereits innerhalb der Nominalphrase eindeutig ausgedrückt werden kann.

Die Interpretation der Flexionskategorien der Nominalphrase ist dabei maßgeblich durch das Nomen bestimmt, das meist selbst die Numeruskategorie ausdrückt und außerdem die Genuskategorie bestimmt. Die Hauptfunktion der Endungen des Artikels und des stark flektierten attributiven Adjektivs ist es so gesehen, die Kasuskategorien innerhalb der durch das Nomen festgelegten Teilparadigmen Maskulinum, Neutrum, Femininum und Plural auszudrücken, vgl. Abbildung:

Flexion in der Nominalphrase

Es können aber auch - einerseits - Kasuskategorien durch das Nomen und - andererseits - Genuskategorien und (implizit) Numeruskategorien durch den Artikel oder durch das stark flektierte Adjektiv angezeigt werden, sodass die Grenze zwischen dem Aufgabenbereich des Nomens und dem der beiden anderen (möglichen) Bestandteile der Nominalphrase als fließend anzusehen ist. Auf jeden Fall werden in mehrgliedrigen Nominalphrasen fast immer die Numerusambiguitäten aufgefangen, die die einzelnen Bestandteile der Nominalphrase betreffen. Unabhängig davon kann die Interpretation der Numeruskategorie einer Nominalphrase "von außen" bestimmt werden, und zwar durch die Vorgabe einer Kasuskategorie durch ein Verb oder durch eine Präposition und schließlich - bei Nominalphrasen in der Funktion des Subjekts - durch die Numeruskategorie des finiten Verbs.

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Marek Konopka
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