Epistemische Verwendungsweise der Modalverben
Im Folgenden werden folgende Besonderheiten der epistemischen Verwendungsweise behandelt:
- Einschränkungen im Formeninventar
- Bevorzugte Deutung bei bestimmten Infinitiven
- Einschränkungen in der syntaktischen Funktion
- Grammatikalisierungstendenz
Einschränkungen im Formeninventar
So können die beiden folgenden Sätze nicht epistemisch gedeutet werden:
Er wird nicht mehr ganz nüchtern sein können.
Generell kann an folgende Erklärung gedacht werden: Epistemische Deutungskontexte entsprechen Annahmen aufgrund des Wissens des Sprechers, das jeweils zur Sprechzeit präsent ist. Sie entstehen also relativ zur Sprechzeit, und es gibt keinen Bedarf für eine zusätzliche Betrachtzeit, die mit zusammengesetzten Tempusformen der Modalverben eingeführt worden wäre.
Auch der Bezug eines Temporaladverbiales auf ein epistemisch verwendetes Modalverb ist ausgeschlossen. In epistemischer Verwendungsweise muss das Temporaladverbiale innerhalb des modalen Deutungskontextes sein:
Liegt das Temporaladverbiale außerhalb des modalen Deutungskontextes wie im folgenden Beispiel, so sind nur nicht-epistemische Lesarten möglich:
Man vergleiche:
Sie sah sich den Neuen genauer an. Sie musste ihn schon einmal gesehen haben.
Aber auch in diesem Bereich gibt es bei bestimmten Modalverben Restriktionen:
- Bei dürfen wird nur der Konjunktiv Präteritum dürfte epistemisch gebraucht:
- Bei mögen sind der Konjunktiv Präsens möge und der Konjunktiv Präteritummöchte im epistemischen Gebrauch marginal:
Die epistemische Verwendungsweise von möchte kann immerhin im literarischen Kontext auftreten:
(Mann, Thomas: Gesammelte Werke in 12 (13) Bänden. Frankfurt/M. 1960 (1974). Bd. 8, S. 931)
Die Verwendung des Konjunktiv Präsens (könne, müsse) entspricht der üblichen Funktion dieser Form als indirekte Redewiedergabe. Die Formen des Konjunktiv Präteritum werden hingegen nicht wie üblicherweise zur Indizierung von Nicht-Faktizität gebraucht - diese ist mit der epistemischen Verwendung ohnehin schon gesetzt -, sondern zu einer Abschwächung im Ausdruck von Wahrscheinlichkeiten:
Daneben wird der Konjunktiv Präteritum im epistemischen Gebrauch auch wie üblich zur Redewiedergabe gebraucht:
Bevorzugte Deutung bei bestimmten Infinitiven
Bei Verbindungen mit bestimmten Infinitiven liegt die epistemische Verwendungsweise des Modalverbs näher als andere Verwendungsweisen. Dies ist der Fall
- bei einem Infinitiv Perfekt
- bei Progressivformen
- bei Zustandsprädikationen
Die Bevorzugung einer bestimmten Deutung korreliert hier mit den semantischen Spezifika der Verwendungsweisen: In epistemischer Verwendungsweise gründen sich die Vermutungen eines Sprechers am verlässlichsten auf das, was bereits der Fall sein oder gewesen sein "müsste". Eine nicht-epistemische Deutung liegt hingegen etwa dann nahe, wenn der Infinitiv eine noch nicht abgeschlossene Handlung oder Tätigkeit bezeichnet:
(3a) Sie muss ihn kennen lernen.
Einschränkungen in der syntaktischen Funktion
Epistemisch verwendete Modalverben sind strikt auf die Funktion als äußerster Operator innerhalb eines Verbalkomplexes beschränkt (vgl. Rekursive Anwendung). Somit ist epistemische Deutung ausgeschlossen bei:
- Nominalisierung
Grammatikalisierungstendenz
Aufgrund ihrer Besonderheiten kann die epistemische Verwendungsweise als stärker grammatikalisiert von den übrigen Verwendungsweisen abgehoben werden:
Epistemisch gebrauchte Modalverben sind in ihrer formalen und funktionalen Variabilität vergleichsweise stärker eingeschränkt, insbesondere ist die Systematik des Formenparadigmas teilweise außer Kraft gesetzt. Somit gibt es Übereinstimmungen mit den Hilfsverben, bei denen sein, haben und werden I (Futurperiphrase) ebenfalls nicht das gesamte Formenparadigma in die Bildung von Verbalperiphrasen einbringen. Verbalkomplexe mit epistemisch verwendeten Modalverben stehen daher Verbalperiphrasen, die Teile des Verbalparadigmas sind, nahe. Modalverben sind dazu geeignet, das System der Verbmodi systematisch zu ergänzen und zu entlasten, indem sie Ausdrücke für Potentialität bereitstellen. Der Konjunktiv Präteritum erlaubt nämlich alleine nur den Ausdruck von Potentialität und Irrealität, ohne zwischen den beiden zu unterscheiden. Gegen die Integration der epistemisch gebrauchten Modalverben in das Verbalparadigma spricht allerdings die Vielfalt und semantische Differenziertheit von epistemischen Modalitätsausdrücken.