Verbale Stammformen

Das System der verbalen Stammformen variiert etwas von Subklasse zu Subklasse, vgl. die Skizzen zu schwachen Vollverben, starken Vollverben, Hilfsverben und Modalverben weiter unten. Verben verfügen prinzipiell über mindestens zwei verschiedene Stammformen, an die Personal- und Numerusendungen angefügt werden können: eine Stammform für den Präsensbereich und eine für den Präteritalbereich. Die Stammform für die Bildung des Partizip II kann mit einer der beiden vorgenannten Stammformen identisch sein (deswegen wird sie im Folgenden in den tabellarischen Zusammenstellungen in die Mitte gestellt), sie kann aber auch spezifisch sein.

Schwache Verben weisen nur zwei verschiedene Stammformen auf (z. B. spiel-e - spielt-e), wobei die Präteritalstammform mit der Partizipialstammform identisch ist (ge-spielt). Dagegen können starke Verben im Präsens- und im Präteritalbereich jeweils eine oder zwei Stammformen besitzen. Beim Vorliegen von zwei Stammformen in einem Bereich ist die eine als primär und die andere als sekundär zu betrachten. Starke Verben können darüber hinaus eine spezifische Partizipialstammform aufweisen. Insgesamt können sie also über bis zu fünf Stammformen verfügen. Die Darstellung stützt sich vor allem bei starken Verben auf die ausführlichen Untersuchungen in Wiese 2004 und 2005.

Die (primären) Präsensstammformen gelten prinzipiell sowohl für Indikativ- als auch Konjunktivformen und sind immer identisch mit Infinitivstammformen.

Schwache Vollverben

Die Präsensstammform ist identisch mit der Infinitivstammform und der Imperativstammform. Bei Verben wie grübeln, wandern, also solchen, in denen vor dem schwa-losen Infinitivsuffix -n ein -el- oder -er- erscheint, kann allerdings die Apokope des Schwas ([ə]) in den Wortformen stattfinden, die für die 1. P. Sg und den Imperativ Sg verwendet werden, z. B. grübl-e, wandr-e.

Die Präteritalstammform wird aus der Präsensstammform und dem Präteritalsuffix -(e)t, dem Klassenkennzeichen der schwachen Verben, gebildet und ist identisch mit der Partizipialstammform (vgl. ge-spielt). Die Präteritalstammform gilt wie die Präsensstammform sowohl für die Wortformen im Indikativ als auch im Konjunktiv.

Im hinsichtlich des Tempus und Modus unmarkierten Paradigma des Indikativ Präsens treten an den Stamm - wenn keine phonotaktischen Gründe im Wege stehen - die schwalosen Varianten der Personalendungen -(e)st, -(e)t, also spiel-st und spiel-t (aber red-est und red-et). In den markierten Teilparadigmen des Präsens Konjunktiv sowie des Präteritum Indikativ und Konjunktiv treten an den Stamm - wiederum wenn keine phonotaktischen Gründe im Wege stehen - die schwahaltigen Varianten der Personal- und Numerusendungen (z. B. spiel-est (Präs. Konj.), spielt-est (Prät. Ind./Konj.).


PräsensstammformPartizipialstammformPräteritalstammform
Beispiel (Bildung)spielspielt (Präsensstamm + (e)t)
Weitere FunktionenInfinitivstammform
Imperativstammform
-


Schwache Vollverben mit Vokalwechsel

Die Verben dieser Gruppe bilden den Übergang zu den starken Verben. Die Präterital-/Partizipialstammformen weisen ein -t-, die schwalose Variante des Präteritalsuffixes, und einen Vokalwechsel auf. In dieser Gruppe können die sog. rückumlautenden Verben brennen, kennen, nennen, rennen, senden, wenden und die Verben mit sog. Ersatzdehnung denken, bringen, dünken zusammengefasst werden. Letztere zeigen im Präteritum bzw. im Partizip II zusätzlich noch einen Konsonantenwechsel (z. B. denken - dachte bzw. gedacht). Wenn Wortformen des Präteritum Konjunktiv gebildet werden, weisen sie gegenüber den Wortformen des Präteritum Indikativ einen Umlaut auf (z. B. dächte). So kann für schwache Verben mit Vokalwechsel eine sekundäre Präteritalstammform für die Konjunktivbildung angenommen werden. Zumindest bei rückumlautenden Verben sind Präteritum-Konjunktiv-Formen (z. B. brennte) allerdings sporadisch. Senden und wenden werden auch ohne Vokalwechsel flektiert: sandte/sendete, wandte/wendete.


PräsensstammformPartizipialstammformPräteritalstammform
primärsekundär
Beispiel (Bildung)brenn
denk
brannt
dacht

(Präsensstammform + Vokalwechsel + t)
brennt
dacht

(Präteritalstammform + Umlaut)
Weitere FunktionenInfinitivstammform
Imperativstammform
-


Starke Vollverben

Starke Vollverben können im Präsens- und im Präteritalbereich jeweils eine primäre und eine sekundäre Stammform aufweisen. Die Partizipialstammform kann zum einen mit der (primären) Präsensstammform, zum anderen mit der (primären) Präteritalstammform identisch und auch von beiden verschieden sein. Die Partizipialstammform und die (primäre) Präteritalstammform werden mithilfe des Ablauts aus der (primären) Präsensstammform abgeleitet.


primäre PräsensstammformPartizipialstammform(primäre) Präteritalstammform
rufrief
reitritt
sprechsprochsprach


Die sekundäre Präsensstammform kann mithilfe eines spezifischen Umlauts (z. B. fall > fäll-) oder des e/i-Wechsels (z. B. geb > gib) aus der primären Präsensstammform gebildet werden. Die sekundäre Präsensstammform gilt in jedem Fall für die Wortformen der 2. und 3. P. Ind Sg. Wird sie mithilfe des e/i-Wechsels gebildet, so ist sie in der Regel zusätzlich identisch mit der Stammform des Imp Sg. Für den Infinitiv, die jeweils übrig gebliebenen Wortformen des Indikativs und des Imperativs sowie alle Wortformen des Konjunktivs gelten die primären Präsensstammformen. Wohlgemerkt, die Vokalerhöhung tritt nicht bei allen Verben ein, bei denen die entsprechenden Voraussetzungen vorliegen, vgl. z. B.: fäll-st aber schall-st und gib-st aber heb-st.


Präsensstammform
primärsekundär
Beispiel
(Bildung,
spezifische
Funktion)
ruf
fallfäll
(primäre Stammform + Umlaut,
2. und 3. P. Ind Sg)
leslies
(primäre Stammform + Hebung,
2. und 3. P. Ind Sg,
Imperativstammform)


Die sekundäre Präteritalstammform wird in der Regel mithilfe des Umlauts aus der primären Präteritalstammform gebildet, sofern diese einen umlautfähigen Stammvokal enthält, z. B. sprach > spräch. Daneben gibt es sekundäre Präteritalstammformen, deren Ableitungsweg synchron gesehen nicht transparent ist, z. B.: stünd. Diachron gesehen gehen solche Stammformen auf die ehemalige Pluralstammform des Präteritums zurück (stünd < stund-en). Die sekundären Präteritalstammformen dienen der Bildung der Wortformen im Konjunktiv. Für den Indikativ gelten die primären Präteritalstammformen.


PräsensstammformPartizipialstammformPräteritalstammform
primärsekundärprimärsekundär
rufrief
reitritt
kommkamkäm
gießgossgöss
fall
(auch Partizipialstammform)
fäll(primäre Präsensstammform)fiel
singsungsangsäng
geb
(auch Partizipialstammform)
gib(primäre Präsensstammform)gabgäb
schmelzschmilzschmolzschmölz
sprechsprichsprochsprachspräch


Hilfsverben

Sein, haben und werden, die als Hilfsverben fungieren können, haben teilweise idiosynkratische Formen (vgl. Hilfsverb). Das System der Stammformen bei haben entspricht im Grunde dem der schwachen Vollverben. Bei sein ist zunächst einmal das Indikativ-Präsens-Paradigma durch Suppletivformen geprägt. Auch zwischen den sonst auftretenden Stämmen - sei, war, wär, wes - sind teilweise kaum Ähnlichkeiten zu erkennen, das Gesamtsystem entspricht aber in Grundzügen dem der starken Vollverben. Das Stammformensystem bei werden steht dem der starken Verben mit e/i-Wechsel sehr nah. Es weicht davon lediglich darin ab, dass die Imperativstammform mit der primären Präsensstammform identisch ist und nicht wie bei anderen Verben mit e/i-Wechsel mit der sekundären Präsensstammform (Imperativ: werd-e, nicht wird). Weitere Besonderheiten von werden betreffen nicht die Stämme, sondern die Affigierung: Die Wortform der 1./3. Sg Prät Ind ist nicht endungslos, sondern sie wird - wie bei schwachen Verben - mit -e gebildet (wurd-e), und das Partizip II wird bei werden als Hilfsverb nur mit dem Suffix -en gebildet (word-en) und nicht wie bei starken Vollverben mit dem Zirkumfix ge- -(e)n (das Partizip II von werden als Vollverb lautet folgerichtig ge-word-en).

Modalverben und wissen

Die Stammformen von sollen entsprechen denen der schwachen Vollverben. Andere Modalverben und wissen haben im Präsens Indikativ Singular eine besondere Stammform mit Vokalwechsel, die (außer bei wissen) formal den Präteritalstammformen der starken Vollverben entspricht. Die Präsensstammformen sind an der Numerusdifferenzierung mit beteiligt. Die Infinitivstammform und die Imperativstammform (sofern der Imperativ überhaupt gebildet wird) sind identisch mit der Präsens-Plural-Stammform. Wollen hat wie schwache Vollverben eine gemeinsame Partizipial- und Präteritalstammform, die mit dem Suffix -(e)t gebildet wird. Die restlichen Verben dieser Gruppe zeigen wie schwache Vollverben mit Vokalwechsel eine primäre Präteritalstammform (die mit der Partizipialstammform identisch ist) mit dem Suffix -(e)t und Vokalwechsel, und eine sekundäre Präteritalstammform, die gegenüber der primären einen Umlaut zeigt (vgl. auch Modalverb).


PräsensstammformPartizipialstammformPräteritalstammform
SingularPluralprimärsekundär
sollsollt
willwollwollt
darf
kann
muss
mag
weiß
dürf
könn
müss
mög
wiss
durft
konnt
musst
mocht
wusst
dürft
könnt
müsst
möcht
wüsst

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Autor(en)
Marek Konopka
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