Semantische Rollen sind systematische Abstrahierungen semantischer Funktionen, die Sachverhaltsbeteiligten in einem Sachverhalt zugeschrieben werden. Sie stellen universale kognitive Konzepte dar (nach Fillmore 1968, S. 46: Wer hat etwas getan? Wem ist etwas passiert? Was hat sich verändert?).
Semantische Rollen werden typischerweise im Kontext der Valenz des Verbs diskutiert: Analog dazu, dass ein Verb auf syntaktischer Ebene Komplemente selegiert, vergibt es auf semantischer Ebene semantische Rollen an seine Argumente (vgl. Eisenberg 2006, S. 75). Nach Primus (2012, S. 62ff.) existieren jedoch auch verbunabhängige Adverbialrollen (12). Für eine Diskussion dazu siehe Dowty (1991, S. 554), Helbig (1998, S. 11) für eine Ablehnung der Annahme, dass valenzfreie Elemente im Satz semantische Rollen tragen, überdies Welke (2011, S. 56), der Instrumentalbestimmungen wie das fett markierte Element in (12) als ständigen Streitfall zwischen valenzfrei und -gebunden bezeichnet.
Da die semantische Funktion eines Sachverhaltsbeteiligten nur in Relation zu eben diesem Sachverhalt bestimmt werden kann, handelt es sich folglich bei semantische Rolle um einen relationalen Begriff.
Wie semantische Rollen durch sprachliche Ausdrücke bzw. syntaktische Funktionen realisiert werden, wird unter der Bezeichnung Linking untersucht. Auch wenn sich diesbezüglich keine 1:1-Beziehung findet, lassen sich gewisse Regelmäßigkeiten beschreiben.
Im Rückbezug vor allem auf die einflussreiche Arbeit von Fillmore (1968) (der seinerseits von Tiefenkasus sprach) entwickelte sich eine umfangreiche Forschung zum Thema semantische Rollen. Unterschiedliche Rollen werden in der Literatur diskutiert, und es existieren verschiedene Definitionen gleich benannter Rollen. Vor diesem Hintergrund ist die folgende Liste keinesfalls exhaustiv, sondern beinhaltet ein Kerninventar an weitläufig angenommenen Rollen und deren nicht formaler Beschreibung:
Rolle | Beschreibung | Beispiel | |
1. | AGENS | Urheber einer Handlung, der Kontrolle über diese Handlung hat | Kevin fährt Auto. |
2. | PATIENS | physisch Affizierter einer Handlung, ohne Kontrolle über diese Handlung | Das Kind zerstörte die Vase. |
3. | REZIPIENT | Empfangender (auch Institutionen) | Lässig gab er dem Sheriff seinen Revolver. |
4. | ADRESSAT | Empfänger in einem kommunikativen Akt, das Empfangene ist eine Nachricht oder eine Erzählung | Er hatte seinen Geschwistern eine Geschichte erzählt. |
5. | BENEFAKTIV | Nutznießer einer Handlung/ Situation | Die Nachbarin leiht Peter ihren Porsche. |
6. | POSSESSOR | Besitzender | Das rote Mountainbike gehört Kevin. |
7. | EXPERIENS | Träger eines psychischen Zustandes, also ein Wahrnehmender oder Empfindender | Kevin liebt Zitroneneis. |
8. | THEMA | Gegenstand einer kognitiven, kommunikativen oder emotionalen Situation | Die Geschichte interessiert mich nicht. |
9. | LOKATIV | Ort eines Sachverhalts | Die Kollegin wohnt jetzt in Köln. |
10. | QUELLE | Ausgangspunkt einer Bewegung | Heiner kommt aus London. |
11. | ZIEL | Endpunkt einer Bewegung | Heiner fährt nach London. |
12. | INSTRUMENT | Entität, mit der ein AGENS eine Handlung herbeiführt. | Hanne zerhaut ihr Sparschwein mit dem Hammer. |
Semantische Rollen ermöglichen eine Abstraktion von Verbbedeutungen und damit die Beschreibung von Ähnlichkeiten und Unterschieden zwischen verschiedenen Verben, darüber hinaus können beispielsweise Wortstellungsregelmäßigkeiten im Satz anhand von semantischen Rollen beschrieben werden (siehe dazu bspw. Primus (2012, S. 52)).
Neben der Schreibweise mit Großbuchstaben, wie beispielsweise in der Grammatik der deutschen Sprache und damit auch in grammis, finden sich auch Schreibweisen der Form Agens, Patiens, Experiens etc.
Die genannten Rollen werden nicht in allen Ansätzen voneinander abgegrenzt, so werden beispielsweise ADRESSAT, BENEFAKTIV und REZIPIENT bisweilen unter REZIPIENT zusammengefasst. Im Rahmen der Grammatik der deutschen Sprache wird von einer sehr abstrakten Rolle OBJEKT ausgegangen, die generisch etwas beschreibt, das eine Veränderung seines Ortes oder seiner Zugehörigkeit erfährt bzw. als Mitteilungsinhalt im Mitteilungsakt erst seine konkrete Konstitution erfährt (entsprechend die Rolle Objective in Fillmore (1968)). Die Rolle OBJEKT wird in anderen Ansätzen wie in obiger Liste dargestellt in THEMA, PATIENS usw. unterdifferenziert. Teilweise unterscheiden sich identisch benannte Rollen bei verschiedenen Autoren voneinander, so wird die Rolle QUELLE bisweilen auch auf den Vorbesitzer in einer Transaktion angewandt. Über die oben angeführten hinaus wird in der Literatur eine Reihe weiterer Rollen diskutiert, beispielsweise KOMITATIV (Begleiter des AGENS bei einer Handlung).
Primus 2012 bezeichnet Ansätze wie den oben dargestellten, die von einer Liste isolierter Rollen ausgehen, in Anlehnung an Levin/Rappaport Hovay (2005) als Rollenlisten-Ansätze. Eine Alternative dazu ist beispielsweise der prototypisch strukturierte Ansatz der semantischen Rollen von Dowty (1991). Darüber hinaus existieren weitere Ansätze wie die lokalistische Rollenauffassung, vertreten beispielsweise durch Jackendoff (1991), oder der Makrorollen-Ansatz in der Role and Reference Grammar (Van Valin/LaPolla (1997)).
Argumentrolle, Kasusrelation, Partizipantenrolle, semantische Relation, thematische Relation, thematische Rolle, Theta-Rolle, Tiefenkasus
θ-role (englisch), rôles sémantiques (französisch), ruoli semantici (italienisch), semantiske roller (norwegisch), role semantyczne (polnisch), szemantikai szerepek (ungarisch), tematikus szerepek (ungarisch)