Selbständige Quantoren

Von selbständigen Quantoren zu reden ist in gewisser Weise irreführend: Die Selbständigkeit dieser Quantoren ist ein reines Ausdrucksphänomen des Deutschen und wohl mancher anderer Sprachen. Wir nennen sie selbständig, weil sie ganz auf sich gestellt einen argumenttauglichen Ausdruck bilden können. Aber das kann nicht heißen, dass sie auch semantisch gesehen allein die Bestimmung eines Verrechnungsorts leisten können, denn Quantoren sind Operatoren und müssen als solche auf etwas angewandt werden, damit sie überhaupt eine Leistung erbringen können.

Quantifiziert werden Einheiten verschiedenster Art: Substanzen, Portionen von Substanzen, Individuen, Mengen von Individuen, Mengen von Mengen, Mengen von Mengen von Mengen ad infinitum. In Propositionen werden die Entitäten, auf die eine Quantifikation angewandt werden soll, über einen Gegenstandsentwurf bestimmt. Im besonderen Fall der Bestimmung eines Verrechnungsortes durch selbständige Quantoren wird dieser Entwurf reduziert auf die Bestimmung eines nackten Etwas, eines bis auf sein Quantifiziertsein uncharakterisierten Gegenstands.

Durch das Ausbleiben jeder spezifischeren Charakterisierung ergibt sich für die Quantifikation ein weiter Anwendungsbereich: was immer als zur Welt gehörig betrachtet werden kann. Der Weite des Anwendungsbereichs entspricht ein geringer Informationswert der Propositionen - sofern keine Allquantifikation vorliegt, die natürlich uneingeschränkt informativ ist.

Eins ist leider gestorben.
Manches liegt im Argen in diesem Land.
Einiges bleibt noch zu tun.

Den meisten Sprachteilhabern fallen sofort Zusammenhänge ein, in denen solche Sätze sinnvoll und informativ sind, und sie werden deshalb bezweifeln, dass die so gebildeten Propositionen nur geringen Informationswert haben. Aber der Zweifel ist nicht angebracht, denn er beruht auf einer Fehleinschätzung: Bei Verwendungen, die solche Sätze informativ erscheinen lassen, ist davon auszugehen, dass der in Frage kommende Gegenstandsbereich bereits ausdrücklich oder stillschweigend eingeschränkt wurde. Man weiß schon, dass von den Schafen des Nachbarn die Rede ist, wenn gesagt wird, eins sei gestorben. Die an sich gegebene Allgemeinheit des Gegenstandsentwurfs wirkt sich also nicht negativ aus.

Die syntaktisch selbständigen Quantoren bilden im Deutschen eine prinzipiell unendliche und doch vergleichsweise überschaubare Liste. Hier einige der häufigeren solcher Quantoren.

alles, etwas, manches, vieles, zahlreiches, ungezähltes, mehreres, einiges, weniges, eines, beides, nichts

Zu diesen selbständigen Quantoren gehören noch die Zahlen. Eine Reihe weiterer Quantoren zählen wir nur mit Vorbehalt zu den selbständigen Quantoren, obwohl sie wie diese selbständig vorkommen können.

man, jemand, niemand, alle, manche(r), viele, zahlreiche, ungezählte, wer, mehrere, einige, wenige, eine(r), beide, keine(r)

Der Vorbehalt erklärt sich so: Diese Ausdrücke leisten nicht nur etwas für die Quantifikation, sondern auch eine Charakterisierung (man, jemand, niemand, wer als menschliches Individuum) bzw. einen Verweis auf Vorerwähntes oder situationell Verfügbares. Während etwa das neutrale alles ohne Rekurs auf Vorerwähntes auskommt, ist alle stets so zu verstehen, als werde damit auf eine zuvor eingeführte oder kontextuell erschließbare Menge Bezug genommen.

Heute hat wieder einmal alles gepasst.
Bis auf dich waren gestern alle da.

Die Bezugnahme erfolgt dabei allerdings nicht in Form eines Verweises, sondern in Form einer Analepse, die einen eingeführten Gegenstandsentwurf ohne Verbalisierung des Vorerwähnten oder als bekannt Vorausgesetzten wieder aufnimmt. Es muss also nicht sein, dass die Bezugsmenge ausdrücklich eingeführt wurde. Auch ein stillschweigend vorausgesetztes gemeinsames Wissen kann aktiviert werden:

Alle, du weißt schon welche.

Verifikationsregel

Die Bedeutung von Quantoren besteht in ihrer jeweiligen Verifikationsregel. Diese Verifikationsregel definiert, auf wie viele Entitäten bestimmter Charakteristik das Prädikat zuzutreffen hat. Eine Explikation der Verifikationsregel eines Quantors kann so wenig wie die Explikation der Verifikation eines Prädikats mit verbalen Mitteln erfolgen: Jeder Versuch, die Verifikationsregel sprachlich zu erfassen, führt unweigerlich in einen unendlichen Regress. Um das zu vermeiden, muss an die Stelle einer sprachlichen Klärung eine Demonstration treten, wie sie in den Arbeiten von Lorenzen und Lorenz beschrieben wird. Siehe Lorenzen, Paul/ Lorenz, Kuno (1978): Dialogische Logik. Darmstadt.

Eine solche Demonstration könnte etwa darin bestehen, dass man gleichartige Objekte in verschiedener Anzahl präsentiert und dazu jeweils einen Quantor angibt:

Die Bedeutung eines Quantors wie 'wenig' oder 'weniger' allerdings lässt sich so nicht demonstrieren. Hier könnte eine Demonstration wie diese helfen:

Die Demonstrationen können freilich nicht präziser sein als die Bedeutung der Quantoren: Während ein Quantor wie 'eines' oder 'zwei' oder 'alles' unter semantischem Gesichtspunkt eine eindeutige Verifikationsregel hat, ist die Verifikationsregel von Quantoren wie 'einige'. 'manche'. 'viele' notorisch unscharf. Man kann so wenig präzise angeben, wann eine Ansammlung von Objekten als viel von dieser Art gelten kann, wie man präzise angeben kann, wie viele Sandkörner einen Sandhaufen bilden.

Die Verifikationsregeln von Quantoren wie 'viele'. 'einige' sind auch noch in anderer Hinsicht bemerkenswert: Wenn von etwas eines oder auch alles oder keines gegeben ist, dann ist, gleichgültig, welcher Art dieses Etwas ist, jeweils ein und dieselbe Quantität bestimmt. Hat man dagegen viel von etwas, kann das, in absoluten Zahlen ausgedrückt, je nachdem, worum es sich handelt, mehr oder weniger sein: Von vielen Elefanten wird man vielleicht schon reden, wenn fünf oder sechs zugegen sind, während fünf Ameisen noch nicht gerade viele sind. Es gibt bei solchen Quantoren offenbar ein sachspezifisches Quorum - das freilich selbst nicht scharf zu fassen ist - für das Gegebensein einer entsprechenden Anzahl. Dieses Quorum ist aber für jeden der 'unscharfen' Quantoren abhängig von den Quoren für die anderen Quantoren bestimmt: Wenn - soweit möglich - klar ist, wann man von vielen Elefanten sprechen kann, dann ist damit auch schon klar, wann von mehreren, einigen, wenigen Elefanten zu sprechen ist. Das bedeutet: Das für die Quantifikation wichtige Verhältnis der Quantoren zueinander bleibt gewahrt.

Typen von Bestimmungen

Wie unquantifizierte Gegenstandsentwürfe können auch selbständige Quantoren eine weitergehende Bestimmung erfahren. Dabei sind zwei Typen von Bestimmungen zu unterscheiden.

1. Modifikatoren, die aus Quantoren neue, eben modifizierte Quantoren machen

Auf langen Reisen hatte er fast alles gesehen. Höchstens drei erreichen das Ziel in Dakar.
Wir haben sehr viel getrunken.
Mit weniger als fünf geben wir uns nicht zufrieden.
Ungefähr zwanzig sollten es schon sein.

Die Modifikatoren wirken sich auf die Verifikationsregeln aus: Wer fast alles gesehen hat, muss nicht alles gesehen haben. Wo höchstens drei das Ziel erreicht haben, darf kein Vierter es erreicht haben, aber auch gar keiner.

2. Spezifikatoren, die einen Quantor als Quantor unverändert lassen

Alles, was mir gefällt, muss ich haben.
Einiges aus der Sammlung gefiel ihnen.
Vieles in diesem Land liegt im Argen.

Die Spezifikation operiert nicht auf Quantoren, sondern auf den hinsichtlich einer Charakteristik so weit nicht bestimmten Gegenstandsentwurf. Mit dem Auftreten eines spezifizierenden Ausdrucks verliert der Gegenstandsentwurf seine Unbestimmtheit und unterscheidet sich nur noch formal von den Gegenstandsentwürfen, die im Zusammenhang mit Entwürfen quantifizierter Gegenstände betrachtet werden.

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Autor(en)
Bruno Strecker
Bearbeiter
Elke Donalies
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