Gebundenes Pronomen: das Reflexiv-Pronomen
frz. pronom réfléchi
Reflexiv-Pronomen im Überblick
Siehe auch Bezug auf ein Subjekt oder auf ein Akkusativ- bzw. ein Dativkomplement?
andere Bezeichnungen und Zuordnungen
Reflexivum, rückbezügliches Fürwort.
Traditionell wird das
Reflexiv-Pronomen in einem Paradigma mit drei Personen und zwei Numeri, evtl. noch differenziert
nach den Kasus Akkusativ, Genitiv und Dativ, angeführt.
Wir dagegen gehen davon aus, dass
die Sprecher- und Hörer-Pronomina so eindeutig verweisen,
dass für sie spezielle Reflexivformen nicht nötig und auch nicht vorhanden sind. Somit haben die
Sprecher- und Hörer-Pronomina mich, mir, dich, dir, uns, euch auch eine
reflexive Lesart/Bedeutung.
Beispiele
Hans und Maria freuen sich auf die
Grammatik-Klausur.
Sie denkt sich wieder nichts
dabei.
Fritz verneigt sich vor dem Bundeskanzler.
Maria schämt sich wegen deines Verhaltens.
morphologische Eigenschaften
Das Reflexivum sich hat eine identische Form für alle drei Genera, die Kasus Dativ und Akkusativ und die Numeri Singular und Plural.
syntaktische Eigenschaften
Das Reflexiv-Pronomen bezieht sich in den meisten Fällen auf das Subjekt (es ist referenzidentisch mit dem Subjekt), seltener auf ein Akkusativkomplement oder ein Dativkomplement.
Hans betrachtet sich im Spiegel.
Maria ließ Hans mit sich und seinen Zweifeln allein.
Sie warnt ihn vor sich/sich. (Bezug auf Akkusativkomplement oder das Subjekt)
Du empfiehlst ihm am besten sich selbst.
Bei bestimmten Verben muss das Akkusativkomplement oder das Dativkomplement obligatorisch mit einem Reflexiv-Pronomen oder einem der Sprecher- oder Hörerpronomen gefüllt sein. Die reflexive Lesart der Sprecher- und Hörer-Pronomina ist bei diesen obligatorisch reflexiven Verben offensichtlich. Das Reflexiv-Pronomen bzw. das Sprecher- und Hörer-Pronomen ist dann aufgrund der speziellen, fixierten Valenzsituation lexikalisch gefordert, es ist Bestandteil des Lexems:
Fritz verneigt
sich. Das merkt sie sich! | Reflexiv-Pronomen |
Wir schämen
uns. Ihr weigert euch? | reflexive Lesart des Sprecher- und Hörer-Pronomens |
Ohne das Reflexivpronomen bzw. das Sprecher- und Hörer-Pronomen ist der Ausdruck mit obligatorisch reflexiven Verben nicht verstehbar (1 bis 3) oder bekommt eine andere Bedeutung (4):
*Fritz verneigt.
andere Bedeutung: Das
merke ich!
*Wir schämen.
*Ihr
weigert?
Siehe auch *Das merkt sie! im Vergleich zu Das
merkt sie sich!
Das Reflexivpronomen bzw. das Sprecher- und Hörer-Pronomen kann bei diesen Verben auch nicht durch ein anderes Personalpronomen ersetzt werden:
*Fritz verneigt uns.
*Das merkt sie
dir!
*Wir schämen euch.
*Ihr weigert
uns?
Im Deutschen und noch konsequenter im Französischen werden die zwei Spielarten des Reflexivpronomens am Verb terminologisch unterschieden:
Deutsch | Französisch | |
reflexive Verben, reflexiv gebrauchte Verben | — | verbes réfléchis |
obligatorisch reflexive Verben (mit lexikalisch gefordertem Reflexiv-Pronomen) | — | verbes pronominaux |
Im Französischen gibt es mehr (frz.) verbes pronominaux als obligatorisch reflexive Verben im Deutschen. Auch sind die Entsprechungen keineswegs parallel, d.h. oft ist ein reflexives Verb in der anderen Sprache nicht reflexiv. Die folgende Tabelle zeigt anhand von Beispielen die drei Verteilungstypen:
Im Dt. reflexiv, im Frz. nicht: | In beiden Sprachen reflexiv: | Im Frz. reflexiv, im Dt. nicht: | |||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||||
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Häufiger als im Deutschen sind im Französischen auch unpersönliche Wendungen mit Reflexivpronomen, bei denen das Agens ungenannt bleibt:
Cela ne se fait pas. (So etwas tut man nicht.)
Ce mot ne
s'emploie plus. (Dieses Wort ist nicht mehr gebräuchlich.)
Schließlich sind auch die Eigenheiten bestimmter Verblexeme für Asymmetrien verantwortlich:
s'asseoir = sich setzen. ABER: Faites asseoir Madame = lassen Sie die Dame sich setzen.
semantische und funktionale Eigenschaften
Das Reflexiv-Pronomen ermöglicht eine besondere Form der thematischen (anaphorischen)
Fortführung eines bereits eingeführten Gegenstands.
Bei bestimmten nicht obligatorisch
reflexiven Verben kann das Reflexiv-Pronomen auch reziprok interpretiert werden: Paul und
Paula / die beiden küssen sich. Dann ist der Bezugsausdruck eine koordinierte
(Paul und Paula) oder eine pluralische (die beiden)
Nominalphrase, der ein symmetrisches
Prädikat zu Grunde liegt.
reziprok und nicht reziprok interpretierbar | nicht reziprok interpretierbar | |
Paul und Paula | küssten sich liebten sich schlugen sich | verneigten sich schämten sich freuten sich |
Die reziproke Lesart des Reflexiv-Pronomens war in der deutschen Sprachlehre traditioneller Prägung lange Zeit umstritten, da sie mit der partikulären Lesart zusammenfällt und daher Missverständnisse entstehen können. Bei einer Reihe von Verben wird dies besonders deutlich:
sie quälen sich, belügen sich, betrügen sich, täuschen sich, machen sich etwas vor, …
Hier kann man einerseits verstehen, dass die Handlung gegenseitig (reziprok), andererseits, dass sie von jedem an sich selbst (partikulär) ausgeführt wird. Sprachpuristen begründen ihre Kritik damit, dass ja das Deutsche für die reziproke Lesart ein eigenes Pronomen bereithält, nämlich einander, das allerdings teilweise veraltet oder unnatürlich wirkt:
sie quälen einander, sie belügen einander, sie lieben einander… usw.
Auch das Englische macht den genannten Unterschied; er ist hier sogar eindeutig und obligatorisch, weil kein mehrdeutiges Reflexiv-Pronomen existiert:
they are torturing themselvesvs they are torturing each other.
Im Französischen ist auch bei reziprok intendierter Lesart das Reflexivpronomen immer vorhanden, während die Reziprozität entweder gar nicht oder durch eines von drei oder vier speziellen Elementen bezeichnet wird:
Ils se respectent (l'un l'autre). (Sie
haben Respekt voreinander.)
Ils s'accusent
mutuellement. (Sie bezichtigen sich
gegenseitig.)
Ils vont finir par s'entretuer. (Die werden
sich noch gegenseitig umbringen.)
Irrelevant sind solche Feinheiten in beiden Sprachen bei Verben mit semantisch festgelegter Reziprozität (selbst wenn diese nur eine Variante des Verbs ausmacht); dort ist z. B. auch einander nicht nur nicht nötig sondern nicht möglich:
ils se rencontrent (sie treffen sich)
ils se disputent (sie
streiten (sich)).