Skopus und Fokus von Diktumsgraduierungen
Sucht man zu erfassen, was Diktumsgraduierungen im Rahmen von Dikta leisten können, so kann -jenseits ihrer individuellen Besonderheiten - zweierlei festgestellt werden:
- Sie sind immer auf etwas anzuwenden, was entweder selbst als Diktum gelten kann oder bei anderer Formulierung als Diktum auftreten könnte.
- Sie sind dabei stets auf einen Teilaspekt dessen bezogen, was mit ihrem Basisdiktum zum Ausdruck kommt.
Feststellung (a) gilt dem, was als semantischer Skopus der Graduierung bezeichnet werden kann. Die Art und Weise, in der Diktumsgraduierungen im sprachlichen Ausdruck zu realisieren sind, hat dazu geführt, dass dieser Skopus lange Zeit falsch eingeschätzt wurde, weil man - wie auch bei fokusbezogener Negation - Schwierigkeiten hatte, diesen Aspekt der Graduierung und des entsprechenden Gebrauchs von Fokuspartikel vom dem Aspekt zu trennen, der mit Feststellung (b) angesprochen wird: vom Fokus der Graduierung.
Da sich Diktumsgraduierungen auf Erwartungen oder Einschätzungen beziehen und ihr Basisdiktum nicht hinsichtlich seiner Geltungsbedingungen modifizieren, kann genau genommen vom Skopus einer Diktumsgraduierung nicht im selben Sinn die Rede sein wie etwa vom Skopus einer Negation oder einer Modalisierung.
Der Skopus von Diktumsgraduierungen
Um zu bestimmen, worauf sich Diktumsgraduierungen auswirken, d.h. um ihren Skopus zu bestimmen, muss man sich vor allem an das halten, was sie als semantische Einheiten leisten, denn ihre ausdrucksseitige Realisation kann leicht zu einer Fehleinschätzung führen.
Die entscheidende Frage lautet:
Was kann prinzipiell Gegenstand einer Graduierung sein, wie sie mit Ausdrücken wie ausgerechnet, nicht zuletzt, noch, sogar vorzunehmen ist?
Die Antwort:
Dass etwas der Fall ist, der Fall sein könnte oder der Fall sein sollte.
Auch wenn etwa im folgenden Satz sogar unmittelbar neben Goethe platziert ist und bei einer Topikalisierung von einige schlechte Gedichte zusammen mit Goethe seine Position zu verändern hat, macht es wenig Sinn anzunehmen, das allein die Person Goethe graduiert würde. Die Graduierung gilt vielmehr dem offenbar als ungewöhnlich erachteten Umstand, dass Goethe, wie andere auch, einige schlechte Gedichte geschrieben hat:
Von einer Einstufung Goethes kann mithin nur im Hinblick auf diesen besonderen Sachverhalt gesprochen werden.
Dass eine Graduierung, wie sie bei diesem Beispiel vorliegt, ein Diktum insgesamt zu Gegenstand hat, mag man zugestehen, doch wie steht es damit bei solchen Sätzen:
(die tageszeitung, 18.05.1989, S. 8)
(Thomas Mann, Reden und Aufsätze, SFV 1960, Bd. 11, Aufsatz. "Ein Nachwort", Lübeck, 1905 (in "Lübecker General-Anzeiger"), S. 547)
(die tageszeitung, 17.08.1992, S. 17)
Hier sind sicher nicht die Dikta insgesamt im Skopus der Graduierung, doch lässt in jedem Fall eine Komponente des Diktums finden, die so reformuliert werden könnte, dass sie ein eigenständiges Diktum zum Ausdruck brächte, das sich dann im Skopus der jeweiligen Diktumsgraduierung befinden könnte. Am einfachsten lässt sich dies bei dem dass-Satz nachvollziehen. Im Fall der Infinitivkonstruktion im zweiten Beispiel fällt das nicht ganz so leicht, doch liegt dies vor allem an Thomas Manns aufwändigem Stil. Grundsätzlich kommt es hier nur darauf an, zu dem Infinitiv im Matrixsatz das richtige Subjekt zu finden, um die Konstruktion als eigenständige kommunikative Ausdruckseinheit reformulieren zu können, mit der ein Diktum auszudrücken wäre, das im Skopus der Diktumsgraduierung sein könnte.
Beim dritten Beispiel befindet sich der Ausdruck, mit dem die Graduierung vorgenommen wird, in einer Nominalphrase zwischen Artikel und pränominalem Attribut. Letzteres ist hier von entscheidender Bedeutung, denn mit diesem Attribut ergibt sich im Rahmen der Phrase eine Prädikat-Argument-Struktur, die Gegenstand eines eigenständigen Diktums sein könnte. Es ist diese - kompakt formulierte - Prädikat-Argument-Struktur, die sich im Skopus der Graduierung befindet. In Nominalphrasen ohne pränominale Attribute sind zwischen Artikel und Kopfnomen keine Fokuspartikeln oder fokusbezogenen Ausdruckssequenzen zulässig, und dies nicht nur aus formalen Gründen: Es wäre völlig unverständlich, was mit ihnen zum Ausdruck gebracht werden sollte.
Der Fokus von Diktumsgraduierungen
Diktumsgraduierungen sind, allgemein gesehen, nichts anderes als eine Form der Kommentierung oder Wertung dessen, was mit dem Diktum, auf das sie angewandt werden, zum Ausdruck gebracht wird. Was sie von anderen sachbezogenen Kommentierungen oder Wertungen unterscheidet, ist der Umstand, dass sie nicht nur pauschal kommentieren oder werten, was mit ihrem Basisdiktum zum Ausdruck kommt, sondern sich zudem in besonderer Weise auf einen Teilaspekt des Gesagten beziehen, der im Hinblick auf vorab gegebene Erwartungen oder Einschätzungen in dieser oder jener Hinsicht als bemerkenswert erscheint. Den Teilaspekt, auf den sich eine Diktumsgraduierung in dieser besonderen Weise bezieht, bezeichnet man als ihren Fokus.
Dass ein Teilaspekt den Fokus einer Diktumsgraduierung bildet, bedeutet nicht, dass allein dieser Aspekt ihres Basisdiktums kommentiert oder bewertet würde. Kommentiert oder bewertet werden - und damit den Skopus der Graduierung bilden - kann mittels Fokuspartikeln und fokusbezogenen Ausdruckssequenzen immer nur das Diktum insgesamt, ganz so, wie man mit einer Fotografie nicht allein erfassen kann, was sich bei gegebener Einstellung der Kamera im Fokus befindet. Dass die Diktumsgraduierung einen Fokus hat, bedeutet vielmehr, dass identifiziert wird, welcher Teilaspekt des Diktums für diese spezifische Graduierung verantwortlich zu machen ist. Wird etwa festgestellt, dass sogar Goethe einige schlechte Gedichte geschrieben hat, dann wird durch die Fokussierung der Umstand, dass Goethe zu der Menge derer gehört, die einige schlechte Gedichte geschrieben haben, als Grund für die Einstufung mittels sogar namhaft gemacht.
Zu klären bleibt,
- was überhaupt Fokus einer Diktumsgraduierung sein kann
- wie sich der Fokus einer Diktumsgraduierung mit den Mitteln der deutschen Sprache bestimmen lässt
Zu Frage (a) ist festzustellen: Fokussiert werden kann in einem Diktum prinzipiell alles,
- für das es im gegebenen Rahmen zumindest ein Anderes gäbe, das hätte aufgegriffen werden können,
und
- was sich zusammen mit diesem Anderen relativ zu dem gegebenen Kontext in eine Skala einordnen lässt.
Wie diese - nur umständlich zu formulierenden - Bedingungen zu verstehen sind, lässt sich am besten anhand einiger Beispiele zeigen:
Später | lebte | Schiller | in | Jena |
1804 | lebte | Schiller | in | Jena |
1802 | lebte | Schiller | in | Jena |
Später | wohnte | Schiller | in | Jena |
Später | arbeitete | Schiller | in | Jena |
Später | lebte | Frege | in | Jena |
Später | lebte | Hegel | in | Jena |
Später | lebte | Schiller | bei | Jena |
Später | lebte | Schiller | hinter | Jena |
Später | lebte | Schiller | in | Stuttgart |
Später | lebte | Schiller | in | Heilbronn |
Zeitangaben erfüllen besonders gut die genannten Bedingungen für eine Fokussierung: Was zu einer bestimmten Zeit der Fall war, könnte prinzipiell auch zu anderer Zeit der Fall gewesen sein. Zugleich lassen sich Zeitpunkte oder Zeitabschnitte hinsichtlich gegebenen Erwartungen problemlos in Skalen anordnen
Ausgehend von einer erwarteten Ereigniszeit, kann etwa jedes Ereignis eingestuft werden als etwas, das
- schon, das heißt vor der erwarteten Ereigniszeit, eingetreten ist
- noch, das heißt nach der erwarteten Ereigniszeit, aussteht
- erst, das heißt nach der erwarteten Ereigniszeit, eingetreten ist
Weniger offensichtlich als bei Zeitangaben scheinen auf den ersten Blick die Verhältnisse bei Angaben anderer Art, doch dieser Eindruck entsteht nur, wenn man, wie eben hier, isolierte Beispielsätze betrachtet. Im Allgemeinen wird man die fraglichen Angaben zwar ohne weiteres durch Gleichartige ersetzen können, doch ohne Kontext bleibt offen, welcher Art Skalierung angemessen sein könnte. Hier muss man einfach etwas Phantasie entwickeln, dann finden sich bald passende Bewertungskriterien und ganzes Spektren einschlägiger Werte. Ein Beispiel:
Bewertungskriterien könnten hier unter anderem sein:
- die klimatischen Verhältnisse
- die Arbeitsbedingungen
- das soziale Prestige des Wohnorts
- die politischen Verhältnisse
- die Nähe zu einem bestimmten anderen Ort
Ein Wertespektrum etwa hinsichtlich der klimatischen Verhältnisse könnte dabei - für Sprecher mit entsprechenden Präferenzen - etwa so aussehen:
Rom > Paris > Straßburg > Frankfurt > Jena > Königsberg > Moskau
Nicht immer werden sich so leicht Kriterien und Werte finden. Im Fall der mittels in, bei und hinter ausgedrückten lokalen Beziehungen ist die Auswahl sicher recht begrenzt, doch die Anzahl möglicher Kriterien und Werte ist nicht entscheidend. Entscheidend ist allein, dass es mindestens ein solches Kriterium und zwei mögliche Werte gibt.
Zu Frage (b):
Was Fokus einer Diktumsgraduierung ist, kann unter bestimmten Voraussetzungen bereits aufgrund formaler Kriterien festgestellt werden. So etwa bei folgenden Sätzen:
(die tageszeitung, 10.06.1989, S. 8)
(die tageszeitung, 10.12.1987, S. 8)
(die tageszeitung, 30.09.1992, S. 38)
(SÜDWEST BW-29. 10.2004, 12:25 h, in der Sendung Brisant)
Als Identifikationskriterium dient hier zum einen die Position der Fokuspartikel bzw. des fokusbezogenen Ausdrucks zum andern der Umstand, dass nur der unmittelbar folgende Ausdruck dem Fokusbereich zugerechnet werden kann. Sehr oft ist jedoch eine Identifikation des Fokusbereichs nicht allein auf der Basis der Position von Fokuspartikel oder fokusbezogenem Ausdruck möglich, weil diese sich zwischen zwei Ausdrücken befinden, die beide als Fokusbereiche in Frage kommen:
(die tageszeitung, 25.02.1991, S. 12)
oder weil ihnen eine komplexe Sequenz vorangeht oder folgt, in der prinzipiell verschiedene Wörter oder Teilsequenzen als Fokusbereiche in Frage kommen:
(die tageszeitung, 17.09.1986, S. 7)
Werden solche Sätze mündlich vorgebracht, kann manchmal ein deutlicher Fokusakzent die Identifikation des Fokussierten unterstützen:
(SÜDWEST BW-29. 10.2004, 12:24 h, in der Sendung Brisant)
(SÜDWEST BW-29. 10.2004, 12:25 h, in der Sendung Brisant)
(SÜDWEST BW-29. 10.2004, 12:22 h, in der Sendung Brisant)
Man sollte allerdings die Leistung der Akzentuierung nicht überschätzen, denn um mehr als ein zusätzliches Hilfsmittel kann es sich dabei schwerlich handeln: Hinge die Identifikation des Fokussierten wesentlich davon ab, dass ein korrekter Fokusakzent gesetzt wird, dann müssten man beim Lesen ständig in Schwierigkeiten geraten, weil einem dabei ein solcher Indikator nicht zur Verfügung steht. Tatsächlich ist nicht einmal in mündlicher Rede auf die Akzentuierung Verlass. Sieht man von geschulten Sprechern ab, die ihren Vortrag sorgfältig vorbereitet haben und deutlich artikulieren, dann zeigt sich schnell, dass Fokusakzente oft, wenn überhaupt, dann nur schwach und nicht selten sogar falsch gesetzt werden:
(Die Zeit Nr. 43, 14. 10. 2004, S. 1)
(LBC, S. 174, Sprecher: Heinrich Böll)
(Herbert Wehner , 14. 6. 1953, RIAS Berlin)
Wo formale Mittel - Positionierung der von Fokuspartikel oder des fokusbezogenen Ausdrucks und Fokusakzent - nicht für die Identifikation des Fokus herangezogen werden können, muss man sich auf das stützen, was den Hintergrund der Fokussierung abgibt, nämlich - in dieser Reihenfolge - auf:
- vorangegangene Textpassagen oder Gesprächsbeiträge
(die tageszeitung, 09.06.1987, S. 1)
Hier gehen der Diktumsgraduierung Feststellungen voraus, in denen davon die Rede ist, dass jemand um militärische Hilfe für eine Aktion im Persischen Golf ersucht wird. In diesem Kontext ist wohl davon auszugehen, dass finanziellen den Fokusbereich der Fokuspartikel wenigstens bildet und nicht etwa Beitrag, Sicherheit, Schiffsverkehrs oder Golf, obwohl dies, rein formal betrachtet, ebenso möglich wäre.
- herausragende Erscheinungen im gegebenen Handlungszusammenhang
Wird dieser Vorwurf in einem Handlungszusammenhang geäußert, in dem mehrere Stühle verfügbar sind, die bis auf eben diesen einen recht stabil aussehen, wird man diesen als Fokusbereich betrachten. Ist es hingegen so, dass neben einer Reihe von Sitzbänken nur ein Stuhl vorhanden ist, dann wird man Stuhl als Fokusbereich betrachten.
- allgemeines Hintergrundwissen oder spezielles gemeinsames Wissen der Gesprächspartner
Hier könnte prinzipiell sowohl alte als auch Maier den Fokusbereich bilden. Bei entsprechendem Hintergrundwissen der Gesprächsbeteiligen wäre jedoch sofort klar, was hier fokussiert wird.