Diktumsgraduierung
Die Bezeichnung Diktumsgraduierung mag für manchen neu und ungewohnt sein, die Erscheinung selbst ist kompetenten Sprachteilhabern längst vertraut, auch wenn sie sicher nicht dem zuzurechnen ist, was für gelungene Kommunikation unabdingbar ist. Was Diktumsgraduierung ist und was mit ihr im Rahmen kommunikativen Handelns erreicht werden soll oder kann, lässt sich deshalb am besten anhand einiger Beispiele zeigen, in denen von diesem Mittel Gebrauch gemacht wird:
(Wetterbericht vom 23. 8. 2004, ZDF)
(Wetterbericht vom 23. 8. 2004, ZDF)
(Wetterbericht vom 23. 8. 2004, ZDF)
(Helmut Schmidt am 19. 3. 2003, ZEIT-Matinee: Baustelle Deutschland)
(Josef Joffe, Regimewechsel, Teil 2, DIE ZEIT, Nr. 27 24. Juni 2004, S. 1)
(Signor Ferrari in Michael Curtiz' Film Casablanca)
Durch die Graduierungen - meist wie hier vorgenommen unter Verwendung einer Fokuspartikel - wird zweierlei erreicht:
- Ein bestimmter Teilaspekt des Diktums wird fokussiert und damit als dasjenige namhaft gemacht, was die spezifische Graduierung des Diktums motiviert.
- Der mit dem Basisdiktum vorgestellten Sachlage wird im Hinblick auf einschlägige sprecher- oder hörerseitigen Erwartungen und Einschätzungen ein bestimmter Stellenwert unter gleich oder ähnlich gelagerten Sachlagen zugewiesen.
Diktumsgraduierung gleichen darin der fokusbezogenen Negation und unterscheiden sich zugleich von sachbezogenen Kommentierungen und Wertungen, mit denen auch Einschätzungen vorzunehmen sind, jedoch ohne Bezug auf Erwartungen und ohne Fokussierung eines Teilaspekts.
Mit Diktumsgraduierungen lassen sich unerwünschten oder gar falsche hörer- oder leserseitige Einschätzungen natürlich nicht unbedingt ausräumen, doch kann durch eine entsprechende Graduierung verhindert werden, dass diese stillschweigend und unwidersprochen fortbestehen. Diktumsgraduierungen orientieren sich dabei kontextabhängig an Werteskalen, die als unter den gegebenen Umständen allgemein akzeptiert betrachtet werden. Was dies im Fall der Beispiele heißt, wird deutlich, wenn man die Partikeln tilgt und die damit verbundene Betonung unterlässt.
In der Sache ergeben sich durch eine Diktumsgraduierung keine Veränderungen. Was entfällt ist allein die Einstufung des Gesagten im Hinblick auf eine als gegeben erachtete Skala von Werten. Die Dikta mögen jetzt in gewisser Hinsicht sachlicher klingen, doch das ist nicht unbedingt von Vorteil, denn nicht selten ist es vor allem die durch eine Diktumsgraduierung erreichte Einstufung, die ein Diktum erst kommunikativ relevant erscheinen lässt.
Was wird bei den vorgestellten Beispielen mittels Diktumsgraduierung erreicht?
Auch der August ...
Die Sprecherin trägt mit der Graduierung dem Umstand Rechnung, dass man normalerweise nicht gerade an den August denkt, wenn von kalten Tagen die Rede ist. Damit, dass sie für die Diktumsgraduierung die Partikel auch wählt, stellt sie zugleich klar, dass das so ungewöhnlich nicht ist. Hätte sie sogar statt auch gewählt, wäre die Einstufung anders ausgefallen: Sie hätte kühle Tage im August als etwas eingestuft, das eigentlich nicht zu erwarten gewesen wäre.
noch mit etwas Wolken ...
Hier wird nicht nur schlechtes Wetter angekündigt, sondern zugleich mittels Graduierung darauf abgehoben, dass dieses Wetter zu einer Zeit fortbestehen wird, zu der es, wie man erwartet/gehofft/gewünscht hätte, besserem Wetter Raum gegeben hätte. Die Skala, auf die hier Bezug genommen wird, ist der Lauf der Zeit
schon wieder ...
Wer erwartet hatte, dass es auch im Westen nachhaltig warm bleiben würde, wird mit dieser Graduierung darauf vorbereitet, dass es früher zu einer Abkühlung kommen wird als man erwartet/gehofft/gewünscht hätte. Wieder wird auf den Lauf der Zeit als Skala für die Einstufung Bezug genommen.
auch China - auch Russland - sogar Indien
Was genau hier als Skala für die Einstufungen dient, lässt sich ohne Kenntnis des Kontextes allenfalls erahnen. In jedem Fall handelt es um etwas, das mehr oder weniger dringend gebraucht wird, und zwar aufsteigend geordnet von absolut erforderlich bis verzichtbar. Durch die Diktumsgraduierung mittels sogar wird Indien auf dieser Skala ein Wert in der Nähe der Verzichtbarkeit zugewiesen.
nur fünfzehn
Fünfzehn Prozent sind fünfzehn Prozent. Je nach Sachlage mag das viel oder wenig sein. Durch die Graduierung mittels nur wird dieser Wert im gegebenen Zusammenhang als hinter den Erwartungen zurückbleibend eingestuft.
Nur ein Wunder
Skala für die Einstufung ist hier Anzahl der Mittel und Wege, die zur Erreichung eines gegebenen Ziels zur Verfügung stehen. Durch die Diktumsgraduierung mit nur wird deren Zahl als denkbar gering eingestuft.
Wie bereits diese noch unsystematischen Betrachtungen anhand weniger Beispielen zeigen, ist die Wirkung von Diktumsgraduierungen auf der Grundlage zweier Faktoren zu bestimmen:
- Man muss die Skala kennen, auf der die Einstufung erfolgen soll.
- Man muss, unabhängig vom gegebenen Fall, die relativen Bewertungen kennen, die mit den verschiedenen verfügbaren Ausdrucksmitteln vorzunehmen sind.
Die Skalen sind nur im Kontext und selbst dann oft nur der Spur nach zu bestimmen. Die relativen Bewertungen sind hingegen kontextfrei mit den Bedeutungen der verfügbaren Ausdrucksmittel gegeben. Wer etwa gelernt hat, nur korrekt zu gebrauchen, wird deshalb verstehen, dass etwas bei einer Diktumsgraduierung mit nur einen geringen Wert zugewiesen bekommt, selbst wenn er nicht weiß, was im gegebenen Fall ein hoher, was ein mittlerer Wert wäre.
Generell ist festzuhalten:
- Diktumsgraduierungen dienen dazu, Dikta unter einem mittels Fokussierung hervorgehobenen spezifischen Aspekt zu skalierten Einschätzungen oder Erwartungen ins Verhältnis zu setzen, die ein Sprecher oder Schreiber selbst teilen, für allgemeinen Standard halten oder auch nur bei seinen Adressaten vermuten kann.
- Diktumsgraduierungen betreffen zwar in erster Linie immer die Einschätzung einer Proposition sind in ihrem Auftreten jedoch kompatibel mit allen Modi dicendi:
(Mannheimer Morgen, 05.09.2001, übrigens . . .)
- Diktumsgraduierungen bleiben - mit einer Ausnahme - ohne Einfluss auf die
Geltungsbedingungen von Dikta. Die Ausnahme bildet die fokusbezogene Ausdruckssequenz
nicht einmal, bei der Diktumsgraduierung und Negation unauflösbar
verbunden sind, so dass es unvermeidlich zugleich mit der Graduierung zu einer Negation
kommt.
Zu Einwänden gegen bestimmte Aspekte dieser Feststellung siehe Diktumsgraduierung und so genannte Gradpartikeln - Diktumsgraduierungen können nicht wirklich als falsch, wohl aber als unangemessen gelten, wenn man die einschlägigen Einschätzungen oder Erwartungen verkennt, also etwa ein Ereignis als unerwartet gut oder auch schlecht einstuft, das für die Hörer oder Leser denkbar selbstverständlich ist.
- In einem Diktum können mehrere Diktumsgraduierungen zugleich auftreten. Die Graduierungen können dabei - wie bei den ersten drei der folgenden Beispiele - adjazent angeordnet und sukzessiv (von links nach rechts) zu interpretieren sein oder - wie bei den nächsten Beispielen - verschiedene Foki haben:
(Mannheimer Morgen, 15.10.1999, Bunter Willkommensgruß)
(Mannheimer Morgen, 17.03.2001, Einzelne Kandidaten gewinnen an Bedeutung)
(Berliner Zeitung, 06.11.1999, Eine Zeitung wie eine Mamma)
(die tageszeitung, 15.10.1990, S. 15-16)
(die tageszeitung, 12.06.1987, S. 7)
(die tageszeitung, 06.06.1989, S. 1)
- Diktumsgraduierungen befinden sich nie im Skopus geltungsmodifizierender Diktungserweiterungen, müssen jedoch nicht unbedingt auf die zentrale Proposition von Dikta bezogen sein. Sie können auch auf Propositionen bezogen sein, die in Form eines Nebensatzes, einer Infinitivkonstruktion oder einer Nominalphrase formuliert werden:
(Frankfurter Rundschau, 06.08.1998, S. 9)
(St. Galler Tagblatt, 26.05.1997, 30jähriger Mann in Walenstadt erstochen)
Eingehende Betrachtungen zu Form, Wirkung und Interpretation von Diktumsgraduierungen finden sich in diesen Einheiten:
(die tageszeitung, 11.04.1990, S. 11)
Hier werden - grundsätzlich und allgemein - die Mittel vorgestellt, mit denen Diktumsgraduierungen zu realisieren sind.
Hier werden Kriterien vorgestellt, anhand derer festgestellt werden kann, ob ein Ausdruck, der grundsätzlich auch zur Diktumsgraduierung verwendet werden kann, in einem gegebenen Diktum diese Funktion erfüllt oder eine andere Funktion hat.
Hier wird betrachtet, wie Ausdrücke, mit denen eine Diktumsgraduierung realisiert werden soll, in kommunikativen Ausdruckseinheiten zu positionieren sind.
Hier wird ausgeführt, wieso bei Diktumsgraduierungen generell Skopus und Fokus dieser Operation zu unterscheiden sind und wie insbesondere ihr jeweiliger Fokus zu bestimmen ist.
Hier wird beschrieben, wie Diktumsgraduierungen generell semantisch zu interpretieren sind und welche Einstufungen mit den verschiedenen verfügbaren Ausdrucksmitteln vorzunehmen sind.
Hier wird dargestellt, was die verschiedenen Ausdrucksmittel der Diktumsgraduierung jeweils zur Bedeutung kommunikativer Ausdruckseinheiten beitragen.