Fokuspartikel und fokusbezogene Ausdruckssequenzen als Mittel der Diktumsgraduierungen
- allein
- auch
- ausgerechnet
- bereits, schon
- besonders
- bloß, nur, lediglich
- erst
- gar
- gerade
- mindestens, wenigstens, zumindest
- noch
- selbst, sogar
- nicht einmal
- nicht zuletzt
- unter anderem
- vor allem
allein
Allein kann unter formalem Aspekt zwei verschiedenen Wortklassen zugeordnet werden. Es kann Adverb sein oder Fokuspartikel. Als Adverb wird es in der Funktion einer Prädikatsspezifikation verwendet:
(Kleine Zeitung, 12.01.1999, Mordgeständnis am Telefon)
Der 61jährige |
| in dem Haus unterhalb der Gerlitzen-Alpenstraße. | ||
Subjekt |
| Ortspezifikation | ||
--- | Prädikat | --- |
Als Fokuspartikel kann allein sowohl zur Diktumsgraduierung als auch zur Quantifikationsmodifikation verwendet werden. Formal sind beide Verwendungsweisen ohne die Berücksichtigung des weiteren Kontextes oft kaum zu unterscheiden, da in beiden Fällen dieselben Stellungsregularitäten greifen und ein Ausdruckselement fokussiert wird.
Das kann nicht nur für Grammatiker zum Problem werden, denn die verschiedenen Interpretationen führen zu verschiedenen Geltungsbedingungen:
(Die Presse, 11.11.1994, China: Fluten, Dürre und Vulkane)
Wird allein hier als Ausdruck für eine Quantifikationsmodifikation interpretiert, besagt dieser Satz soviel wie:
Wird allein hingegen als Ausdruck für eine Diktumsgraduierung interpretiert, besagt der Satz soviel wie:
Welche Interpretation angemessen ist, hängt davon ab, in welchen Kontext das Diktum gestellt wird. Ist dort davon die Rede, dass es andere Unwetterschäden gab, die jedoch weit weniger gravierend waren, so ist eine Interpretation als Quantifikationsmodifikation angemessen. Ist hingegen von weiteren, ähnlich schwerwiegenden Schäden die Rede, ist von einer Diktumsgraduierung auszugehen.
auch
Die Partikel auch hat verschiedene, nicht immer leicht zu unterscheidende Verwendungen.
(Jens Reich, 1994 in SDR 3: Leute)
Diktumsgraduierung
(die tageszeitung, 15.10.1987, S. 7)
Konnexion oder Diktumsgraduierung
(Züricher Tagesanzeiger, 04.12.1998, S. 5)
Konnexion
Die Austauschprobe - sogar gegen auch - kann bei den ersten beiden Beispielen problemlos vorgenommen werden, doch nur beim ersten Beispiel kann man einigermaßen sicher davon ausgehen, dass auch zur Diktumsgraduierung gebraucht wird. Zu erkennen ist das daran, dass kein Vortext gegeben ist, an den die auch-Sätze anschließen könnten und an der Betonung des Ausdrucks Rock, die hiermit in den Fokus gerückt wird.
Beim zweiten Beispiel fällt es schwer, sich für eine Interpretation zu entscheiden, da einerseits ein verbaler Kontext gegeben ist, an den der auch-Satz sich unmittelbar anschließen kann, andererseits aber mit diesem Satz etwas zum Ausdruck gebracht wird, das ohne diesen Vortext auskommen könnte. Hier kann nur in Kenntnis des weiteren Kontexts entschieden werden, ob eine Diktumsgraduierung vorliegt oder nicht.
Das dritte Beispiel zeigt eindeutig eine Verwendung zum Zweck der Konnexion, denn es findet sich ein Vortext, an den der auch-Satz unmittelbar anschließt, die Partikel leitet den Satz ein und steht dabei unmittelbar vor dem finiten Verb.
ausgerechnet
Als Partikel wird ausgerechnet stets zur Diktumsgraduierung verwendet:
(LBC, S. 18, Sprecher: Heinrich Böll)
Verwechslungen mit dem Partizip II von ausrechnen sind aufgrund klar distinkter Distribution so gut wie ausgeschlossen.
bereits, schon
Bereits wird ausschließlich zur Diktumsgraduierung verwendet. Der Ausdruck unterscheidet sich darin von schon, das in dieser Funktion denselben Beitrag zur Satzbedeutung leistet, daneben aber auch andere Verwendungsweisen kennt.
Diktumsgraduierungen mit bereits beziehen sich häufig auf Erwartungen hinsichtlich zeitlicher Abläufe, können aber, wie die Beispiele belegen, auch ganz anderen Einschätzungen gelten:
(Andersch, Alfred: Die Kirschen der Freiheit. Ein Bericht. - Zürich: Diogenes-Verlag, 1971, 130 S., S. 12)
(Frankfurter Rundschau, 07.03.1997, S. 6)
(Frankfurter Rundschau, 08.02.1999, S. 16)
(Kleine Zeitung, 16.07.1999, Landhaushof: Ein Märchen für Musik)
(die tageszeitung, 21.03.1987, S. 6)
(Züricher Tagesanzeiger, 20.06.1996, S. 78)
Wo immer bereits zu gebrauchen ist, kann auch schon verwendet werden. Die Umkehrung gilt jedoch nicht unbedingt, wie die folgenden Beispiele zeigen:
(Mannheimer Morgen, 12.2.1985, S. 6)
(Zeit, 19.4.1985, S. 23)
(Berliner Zeitung, 25.08.2001, S. 4)
(Zeit, 22.2.1985, S. 39)
Dass schon in diesen Beispielen nicht unbesehen durch bereits ersetzt werden kann, hat verschiedene Gründe:
- Im ersten und den beiden letzen Beispielen wird mit schon eine Abtönung erreicht, keine Diktumsgraduierung. Dafür steht bereits nicht zur Verfügung.
- Im zweiten Beispiel tritt schon in Verbindung mit der quantifikationsmodifizierenden Fokuspartikel allein auf. Offenbar wird diese Kombination als fest empfunden, auch in der umgekehrten Reihenfolge schon allein.
Gemeinsam ist bereits und schon eine - nicht sehr häufig anzutreffende - Verwendungsweise, die bei Diktumsgraduierung eher atypisch ist:
(die tageszeitung, 01.11.1990, S. 13)
(St. Galler Tagblatt, 09.04.1998, Neutralität - ein wichtiges Instrument)
Die Verwendung von bereits oder schon in diesen Sätzen verletzt gleich zwei der Kriterien, die üblicherweise zur Identifikation von Graduierungen herangezogen werden: Die Partikeln stehen allein im Vorfeld, und sie bewirken keine Hervorhebung. Aus syntaktischer Sicht könnte man sie in dieser Verwendung als Satzadverbien betrachten. Dennoch ist eine Diktumsgraduierung anzunehmen, denn es fehlt jede - für Satzadverbien typische - modifizierende Wirkung. Als Entscheidungskriterium kann die Negation dienen: Was in diesen Beispielen mit schon und bereits zum Ausdruck gebracht wird, kann nicht negiert werden.
Gegen diese Einschätzung scheint zu sprechen, dass man auf solche Sätze so reagieren kann:
Man könnte annehmen, dass hier mit noch keine bzw. noch nicht weitgehend dasselbe wie mit schon bzw. bereits zum Ausdruck gebracht wird. Das hieße dann auch, dass sich die Graduierung grundsätzlich doch im Skopus einer Negation befinden könnte, wenn auch nicht mit gleich bleibendem Ausdruck (noch keine/nicht anstelle des inakzeptablen nicht schon/bereits). Tatsächlich trifft die Negation aber auch hier nicht die Einschätzung, die mit schon bzw. bereits vorgenommen wird. Negiert wird allein das jeweilige Basisdiktum. Mit der Negation dieser Aussage entfällt jedoch zugleich die Basis der Einschätzungen, die mit schon bzw. bereits zum Ausdruck gebracht wurden.
Man könnte jetzt annehmen, mit noch würden die nicht länger haltbaren Einschätzungen korrigiert. Dagegen sprechen zwei Überlegungen:
- Die Einschätzung mit schon bzw. bereits ist zwar nicht länger aufrechtzuerhalten, wenn ihre Basis entfällt, doch heißt das nicht, dass sie falsch und deshalb zu korrigieren war. Sie gilt dem Sachverhalt, dessen Bestehen mit ihrem Basisdiktum behauptet wird. Unzutreffend könnte sie nur sein, wenn der Sachverhalt tatsächlich bestünde, doch eben nicht schon, sondern genau zum erwarteten Zeitpunkt oder gar später eingetreten wäre. So aber läuft sie lediglich leer.
- Die Zurückweisungen könnten ohne weiteres auch als Reaktion auf Feststellungen gebraucht werden, die ganz ohne Diktumsgraduierung auskommt.
Das atypische Stellungsverhalten von bereits, schon und - wie unten ausgeführt - noch zeigt keine bedeutungslose Stellungsvariation, wie sie etwa bei folgenden Sätzen anzunehmen ist:
In den ursprünglichen Beispielen liegen Diktumsgraduierungen vor, die pauschal die mit dem Basissatz gesetzte Ereigniszeit und mithin alles fokussieren, was sich im Skopus des entsprechenden Zeitoperators befindet. Die Graduierung besagt: Das angesprochene Ereignis trat über Erwarten früh ein. Mit der alleinigen Erstposition der Gradpartikel wird diese besondere Form der Fokussierung zum Ausdruck gebracht.
Die Ereigniszeit kann nur von Diktumsgraduierungen fokussiert werden, die auf entsprechende Skalen bezogen sein können. Das erklärt, warum nur bereits, schon und noch als Mittel der Diktumsgraduierung diese atypische Positionierung zulassen, denn nur diese Partikeln können sich auf spezifische, typischerweise temporale Skalen beziehen.
besonders
Bei besonders denkt man zunächst nicht an Diktumsgraduierung, denn typischer ist eine Verwendung zur Intensivierung, wie sie etwa hier vorliegt:
(Die Presse, 09.04.1992, Arthur Ashe leidet an Aids)
Besonders tragisch ist tragisch in hohem Grad, womit angesprochen wäre, dass mit besonders auch eine Art Graduierung vorgenommen werden kann. Dennoch bringt besonders hier keine Diktumsgraduierung zum Ausdruck. Was als Graduierung erscheint, ist eine Art Intensitätseinstufung, wie sie auch mit sehr, ganz, höchst, in hohem Maß realisiert werden kann. Solche Intensitätseinstufungen können auf alle Prädikate und Attribute angewandt werden, die Intensitätsunterschiede kennen. Beispiele dafür sind:
Hier kann keine Diktumsgraduierung vorliegen. Man erkennt das daran, dass besonders sich nicht auf ein fokussiertes Element bezieht, dass kein Bezug auf Standarderwartungen vorliegt, und vor allem daran, dass eine pauschale Zurückweisung solcher Feststellungen in erster Linie dem gilt, was mit besonders zum Ausdruck gebracht wird.
Wie die folgenden Beispiele zeigen, finden sich aber auch andere Verwendungsweisen von besonders:
(die tageszeitung, 25.03.1994, S. 26)
(Züricher Tagesanzeiger, 20.08.1998, S. 16)
(die tageszeitung, 18.7.1990, S. 16)
In diesen Sätzen liegen keine Intensitätseinstufungen vor, was sich für kompetente Sprachteilhaber auch daran zeigt, dass besonders hier nicht durch sehr oder ganz ersetzt werden kann, wohl aber durch ausgerechnet oder sogar, mit denen in dieser Position eindeutig eine Diktumsgraduierung zum Ausdruck gebracht würde. Was dabei als 'besonders' fokussiert und ausdrucksseitig hervorgehoben wird, lässt seiner Natur nach oft eine Intensivierung gar nicht zu. Besonders intensiv könnten allenfalls die Wertschätzung des Dichters, die Überzeugungskraft des Schlusses oder der Verdacht sein. Eine Zurückweisung mit Das stimmt nicht! träfe bei diesen Beispielsätzen nicht das, was mit besonders zum Ausdruck kommt.
bloß, nur, lediglich
Anders als nur und lediglich, die ausschließlich als Partikeln vorkommen, kann bloß auch als prädikatives Adjektiv verwendet werden:
(Frankfurter Rundschau, 09.08.1999, S. 20)
Als Partikeln können bloß und nur in drei, lediglich in zwei Funktionen verwendet werden.
Die verschiedenen Verwendungsweisen zeigen die folgenden Beispiele:
Diktumsgraduierung:
(Die Presse, 27.02.1992, China: Reform zwischen Ideologie und Repression)
(BGH, URTEIL I ZR 23/01 Verkündet am: 4. September 2003)
(Frankfurter Rundschau, 019.03.1998, S. 2)
Quantifikationsmodifikation:
(die tageszeitung, 31.10.2000, S. 9)
(die tageszeitung, 28.05.1994, S. 1)
(die tageszeitung, 20.10.1986, S. 4)
Abtönung:
(Berliner Zeitung, 20.02.2002, AUSTRALIEN)
(Kleine Zeitung, 29.04.2000, Verbellt)
Soweit sie zur Diktumsgraduierung gebraucht werden, unterscheiden sich bloß, nur und lediglich ausschließlich unter stilistischem Aspekt. Vor allem mündlich wird bloß vorgezogen, insbesondere in informellen Kontexten. Lediglich findet sich vorzugsweise in geschriebener Sprache mit eher formellem Anspruch, mithin häufiger in Berichten als in Erzählungen. Vergleichsweise neutral ist der Gebrauch von nur, das, ohne besonders aufzufallen, bei allen Diktumsgraduierungen anstelle von bloß oder lediglich verwendet werden könnte. Alle drei Partikeln werden häufig auch als Quantifikationsmodifikatoren gebraucht. Daneben können bloß und nur, jedoch nicht lediglich, auch zur Abtönung und zur Konnexion verwendet werden.
Die Feststellungen zur Verwendung von bloß, nur und lediglich können so begründet werden:
- Führt die Verwendung einer dieser Partikeln zu einer Verschärfung der
Geltungsbedingungen, liegt eine Quantifikationsmodifikation vor. Das ist immer dann der
Fall, wenn die Geltungsbedingungen des Basisdiktums offen lassen, ob die betreffende
Quantifikation wörtlich zu nehmen ist oder nur ein Mindestmaß setzt, wie etwa bei diesem Satz:
Ich kann dir zehn Euro leihen.
Wer ein solches Angebot macht, legt sich nicht darauf fest, dass er nicht mehr als zehn Euro leihen könnte. Das wäre jedoch der Fall, wenn er oder sie stattdessen feststellen würde: "Ich kann dir bloß/nur/lediglich zehn Euro leihen." - Führt die Verwendung einer dieser Partikeln zu keiner Verschärfung der
Geltungsbedingungen, weil eine solche im gegebenen Fall nicht möglich ist, liegt bei
lediglich stets eine Diktumsgraduierung vor. Ein typisches Beispiel hierfür:
Dieser Stuhl kostet bei uns lediglich 49, 99 Euro. - Bei bloß und nur könnte grundsätzlich auch eine Abtönung vorliegen. Hier greift ein weiteres Unterscheidungskriterium: Diktumsgraduierungen treten stets in Verbindung mit der Fokussierung eines Elements des Diktums auf. Liegt keine Fokussierung vor, ist davon auszugehen, dass die Partikel zur Abtönung verwendet wurde.
erst
Auch erst kann als Fokuspartikel verwendet werden, doch sind nicht alle Verwendungen dieses Ausdrucks von dieser Art. Es findet sich auch eine Verwendung als Satzverb:
(Frankfurter Rundschau, 010.11.1999, S. 3)
(die tageszeitung, 23.07.1987, S. 4)
Hier wird mit erst eine Zeitspezifikation und keine Diktumsgraduierung vorgenommen. Typisch, wenn auch nicht zwingend für die Verwendung von erst als Satzadverb, ist eine mit dann eingeleitete Fortsetzung des Texts. Auch wird bei einer Verwendung als Satzadverb weder etwas fokussiert, noch auf Erwartungen oder Einschätzungen Bezug genommen. Bei den folgenden Beispielen ist dies ausnahmslos der Fall:
(Frankfurter Rundschau, 012.11.1999, S. 2)
(LGB, S. 49)
(Emil Staiger, Grundbegriffe der Poetik, Atlantis Verlag, Zürich/Freiburg (7), 1966, S. 253)
(Die Zeit, 26. 4. 2004, S. 5)
gar
Die Wortform gar kann verschiedenen Wortklassen angehören:
Imperativ Singular des Verbs garen:
Adjektiv in prädikativer Verwendung:
(Mannheimer Morgen, 06.02.2002, Zug um Zug mehr Service)
Intensitätspartikel:
(die tageszeitung, 23.05.2001, S. 28)
(die tageszeitung, 13.09.1986, S. 4)
Fokuspartikel:
(die tageszeitung, 23.03.1987, S. 7)
Als Fokuspartikel ist gar eine stilistische Variante von sogar. Kompetente Sprachteilhaber können gar in dieser Funktion deshalb einfach identifizieren, indem sie gar durch sogar ersetzen. Wo dies problemlos gelingt, handelt es sich sehr wahrscheinlich um eine Fokuspartikel, die zur Diktumsgraduierung eingesetzt wird. Ganz eindeutig gelingt die Identifikation allerdings nicht immer, weil in manchen Kontexten auch die Intensitätspartikel gar ersetzt werden könnte. Hier ist dann zu prüfen, ob eine Fokussierung vorliegt, auf die sich die Diktumsgraduierung beziehen kann. Ist dies der Fall, ist die Identifikation als Fokuspartikel erfolgreich, sonst nicht.
Wer als Lerner mit den Feinheiten des Gebrauchs von gar und sogar noch nicht vertraut ist, muss sich am Sinn einer Diktumsgraduierung mit gar orientieren. Liegt eine Graduierung vor, heißt das so viel wie, dass der in Frage stehende Sachverhalt vorab hinsichtlich des fokussierten Aspekts als weniger wahrscheinlich angesehen wurde. Macht eine entsprechende Interpretation im gegebenen Fall Sinn, so kann von einer Diktumsgraduierung ausgegangen werden, sonst nicht.
gerade
Auch gerade kann in verschiedenen Funktionen verwendet werden:
großgeschrieben als Nomen:
(Züricher Tagesanzeiger, 20.11.1997, S. 91)
als attributives Adjektiv:
(die tageszeitung, 15.03.1995, S. 18)
als adjektivisches Prädikativkomplement:
(die tageszeitung, 05.05.1990, S. 37)
als Temporal-Adverb:
(die tageszeitung, 10.1.1989)
als Modifikativ-Adverb:
(Thomas Mann, Der Erwählte, SFV 1960, Bd. 7, S. 164)
als Fokuspartikel
(die tageszeitung, 30.05.1998, S. 24)
(Harry Rowohlt, 1998 SWR 1: Leute)
Der Gebrauch von gerade zum Zweck einer Diktumsgraduierung ist vergleichsweise einfach zu identifizieren: Nur in dieser Funktion kann gerade aus einer Äußerung entfernt werden, ohne dass sich die Geltungsbedingungen ändern. Die Graduierungsleistung von gerade besteht darin, den fokussierten Aspekt eines Sachverhalts hinsichtlich seiner sachlichen oder moralischen Eignung als auffällig einzustufen: etwas, an das man nicht gedacht hätte. Je nach Kontext wird man dies dann als eher positiv oder eher negativ verstehen.
mindestens, wenigstens, zumindest
Die weitgehend bedeutungsgleichen Fokuspartikeln mindestens, wenigstens und zumindest können verwendet werden:
zur Diktumsgraduierung:
(Frankfurter Rundschau, 10.12.1998, S. 12)
(LGB, S. 440)
zur Quantifikationsmodifikation:
(Frankfurter Rundschau, 04.05.1999, S. 30)
(die tageszeitung, 11.06.1994, S. 37)
(Kleine Zeitung, 22.08.1998, Augenmaß)
Zu erkennen sind die verschiedenen Verwendungsweisen, wenn man die Auswirkungen der jeweiligen Diktumserweiterung auf die Geltungsbedingungen überprüft.
- Liegt eine Diktumsgraduierung vor, setzt das erweiterte Diktum dieselben Geltungsbedingungen wie das Basisdiktum. Mit der Graduierung kommt lediglich eine Einstufung des festgestellten oder auch nur angenommenen Ereignisses relativ zu anderen Ereignissen hinzu. Entsprechend kann eine Ablehnung dieses Zusatzes nicht als pauschale Negation vorgebracht werden, sondern muss die Diktumsgraduierung selbst thematisieren: "Was heißt hier wenigstens?".
- Liegt hingegen eine Quantifikationsmodifikation vor, wirkt sich das unter Umständen auf die Verifikationsbedingungen des Diktums selbst, jedoch nicht auf zusätzliche Einstufungen aus.
Trotz weitgehend gleicher Bedeutung von mindestens, wenigstens und zumindest unterscheiden sich die Verwendungsweisen dieser Partikel hinsichtlich der Häufigkeit, mit der sie zur Diktumsgraduierung bzw. zur Quantifikationsmodifikation eingesetzt werden: Bei mindestens überwiegt eindeutig die Verwendung zur Quantifikationsmodifikation, die beiden anderen werden häufiger zur Diktumsgraduierung eingesetzt.
Als Quantifikationsmodifikationen wirken mindestens, wenigstens oder zumindest wie ein Pendant zu bloß, lediglich, nur: Während mit diesen Begrenzungen nach oben zu setzen sind, wird mit mindestens, wenigstens oder zumindest eine Grenze bestimmt, die nicht unterschritten werden darf. In Fällen, in denen der mit dem Basisdiktum gesetzte Wert exakte Geltung hat - etwa, wenn von einem dreibeinigen Tisch die Rede ist -, kann so eine Flexibilisierung der Geltungsbedingungen erreicht werden: drei, aber auch mehr.
noch
Noch kann analog zu bereits und schon verwendet werden:
(Bild, 9.1.1967, S. 1)
(Die Zeit, 8. 7. 2004, S. 14)
Bei aller Analogie zu bereits und schon sind Diktumsgraduierungen mit noch nicht problemlos gegen eine dieser Partikeln auszutauschen. Das liegt daran, dass das Ergebnis eines Austauschs nicht immer sinnvoll erscheint. So wäre etwa der folgende Satz als Pendant zum letzten Beispiel eher seltsam:
Von solchen fallspezifischen Beschränkungen abgesehen kann festgestellt werden, dass die Graduierung im Hinblick auf dieselbe Skala erfolgt wie entsprechende Graduierungen mit bereits oder schon. Verschieden ist die Position relativ zu dem erwarteten oder vermuteten Wert: Was noch der Fall ist, hätte man zum fraglichen Zeitpunkt bereits als abgeschlossen erwartet.
Neben Sätzen, in denen noch analog zu bereits und schon verwendet wird, finden sich Sätze, in denen noch in etwa so viel wie zusätzlich, weiterhin oder des Weiteren bedeutet:
(Hörbeleg beim Bohnenkauf)
Auf den ersten Blick könnte man hier eine weitere Verwendungsweise von noch vermuten: Wird sonst das Fortdauern eines Zustands oder Vorgangs angesprochen, den man bereits als abgeschlossen erwartet, so wird hier etwas zur Sprache gebracht, das bislang gar nicht erwartet wurde. Was beide Fälle unterscheidet, ist jedoch nicht an zwei Verwendungsweisen von noch festzumachen, sondern an den Kontexten, in die es gestellt wird. Tatsächlich ist der Bedeutungsbeitrag von noch in beiden Fällen derselbe. Es wird jeweils ein Überhang über einen vermeintlichen Endpunkt vermerkt.
selbst, sogar
Das Wort selbst hat verschiedene, semantisch klar distinkte Verwendungsweisen, die allerdings ohne Kontext oder Hintergrundwissen nicht immer auseinanderzuhalten sind:
(St. Galler Tagblatt, 23.02.1998, Pop-telex)
(Die Zeit, 28.12.1984, S. 17)
(Die Zeit, 9.8.1985, S. 26)
(Die Zeit, 12.4.1985, S. 49)
Das erste Beispiel zeigt eindeutig eine adverbiale Verwendung zum Zweck einer Modifikation des Prädikats. In den beiden folgenden Beispielen liegt ebenso eindeutig ein Gebrauch als Fokuspartikel zum Zweck einer Diktumsgraduierung vor. Zu erkennen sind die verschiedenen Verwendungsweisen an ihrer Position im Satz, die in diesen Fällen eine andere Interpretation ausschließt. Weniger eindeutig das letzte Beispiel, da aufgrund der Schriftform die Betonungsverhältnisse nicht zu erkennen sind. Ein Fokusakzent könnte hier dazu führen, dass die ansonsten näher liegende Interpretation als Prädikatsmodifikation verworfen werden muss:
Wo immer selbst als Fokuspartikel verwendet wird, könnte ohne erkennbare Änderung der Bedeutung auch sogar eingesetzt werden. Die Umkehrung gilt jedoch nicht ohne Einschränkung:
(LBC, S. 29)
Die Ersetzung führt hier zu einer Mehrdeutigkeit, bei der eine Interpretation von selbst als Adverb in der Funktion als Prädikatsspezifikation präferiert würde.
nicht einmal
Die Ausdruckssequenz nicht einmal kann auf zweierlei Weisen verwendet werden, die in gesprochener Sprache anhand der Betonungsverhältnisse eindeutig zu identifizieren sind:
- Wird ein in einmal betont, handelt es sich um eine kontrastierende Negation in Bezug auf eine Frequenzspezifikation:
- Bleibt ein hingegen unbetont und findet sich in der auf nicht einmal folgenden Phrase eine Silbe mit Fokusakzent, liegt eine fokusbezogene Ausdruckssequenz vor:
(LBC, S. 13, Sprecher: Heinrich Böll)
Die fokusbezogene Ausdruckssequenz nicht einmal verhält sich als syntaktische und semantische Einheit weitgehend wie die Fokuspartikel sogar in negierten Sätzen:
Beide Formulierungen bringen zum Ausdruck, dass selbst die Mindesterwartung nicht erfüllt wurde. Verschieden ist nur die Richtung: Mit nicht einmal wird ein Tiefpunkt markiert, mit sogar auch im negativen Satz ein Höhepunkt.
Formal unterscheiden sich nicht einmal und sogar nicht vor allem dadurch, dass bei nicht einmal der Ausdruck für Negation und Diktumsgraduierung eine Einheit darstellt, die nur gemeinsam umgestellt werden kann, während sich sogar im negierten Satz nicht anders verhält als im entsprechenden Satz ohne Negation:
Ein weiterer Unterschied zwischen beiden Ausdrucksmöglichkeiten zeigt sich in der Positionierung der Ausdrücke relativ zum hervorgehobenen Ausdruck:
Eine Positionierung von sogar rechts von der Bezugsphrase wirkt wohl etwas antiquiert, doch ist sie grundsätzlich akzeptabel. Eine entsprechende Positionierung von nicht einmal wäre abweichend.
nicht zuletzt
Anders als nicht einmal, das auch in der Verbindung mit der Diktumsgraduierung als Negation wirksam wird, führt nicht zuletzt nicht zu einer Negation des Basisdiktums. So kann etwa von:
(Oberösterreichische Nachrichten, 23.11.1996)
ohne Einschränkung geschlossen werden auf:
Die in nicht zuletzt auftretende Negation wirkt sich mithin nur auf die Spezifikation einer Rangfolge aus, die mit zuletzt vorzunehmen wäre. Zur Diktumsgraduierung gerät diese Zurückweisung einer Spezifikation, weil sie diese eigens zur Sprache bringt, um zu verhindern, dass diese von den Adressaten des Diktums stillschweigend und unwidersprochen vorgenommen wird.
Auch hinsichtlich seiner Stellungsmöglichkeiten im Satzgefüge verhält sich nicht zuletzt anders als nicht einmal. Während letzteres dem Fokus stets vorangeht, kann nicht zuletzt - wie im Übrigen alle anderen Ausdrucksmittel der Diktumsgraduierung - diesem auch folgen. So könnte etwa dieser Satz:
(die tageszeitung, 05.02.1998, S. 23)
ohne weiteres so umgeformt werden:
Eher selten, doch sehr wohl möglich ist auch eine Verwendung der Kombination von nicht und zuletzt als Satzadverbiale:
Von einer Verwendung zu Zwecken der Diktumsgraduierung sind solche Verwendungen oft anhand der Position im Satz zu unterscheiden, denn Satzadverbialen sind viele Positionen nicht zugänglich, an denen Fokuspartikeln und fokusbezogene Ausdruckssequenzen auftreten können. In mündlicher Rede lassen sich beide Verwendungen anhand des vorhandenen bzw. ausbleibenden Fokusakzents unterscheiden. Wo beides nicht greift, kann als letztes Kriterium nur noch der Kontext herangezogen werden, in dem die eine oder die andere Interpretation sinnvoller erscheint.
unter anderem
Die Ausdruckssequenz unter anderem kann auf diese Weisen verwendet werden:
- als Präpositionalphrase:
- als einleitender Bestandteil einer Präpositionalphrase:
(St. Galler Tagblatt, 12.10.1999, Robert Steffens neues Plakat)
(Frankfurter Rundschau, 06.09.1999, S. 3)
- als Konnektor:
(die tageszeitung, 02.05.1991, S. 6)
(die tageszeitung, 04.06.1992, S. 10)
- als fokusbezogene Ausdruckssequenz zu Zwecken der Diktumsgraduierung:
(Salzburger Nachrichten, 21.08.1999, Halleiner Baufirma schlitterte in Pleite)
(die tageszeitung, 05.07.1994, S. 17)
(die tageszeitung, 20.08.1988, S. 8)
Verwendungen als Präpositionalphrase finden sich eher selten und sind anhand ihrer Funktion als Ausdruck für eine Ortsspezifikation zu identifizieren.
Verwendungen als Bestandteil einer Präpositionalphrasen sind in drei Schritten zu identifizieren:
- Schließt sich an unter anderem eine Nominalphrase an, die eine
der folgenden Bedingungen nicht erfüllt, kann keine Präpositionalphrase
vorliegen:
- Die Phrase ist artikellos.
- Sie ist singularisch.
- Sie kann ihrer Form nach im Dativ gehalten sein.
- Erfüllt die an unter anderem anschließende Nominalphrase alle unter 1. genannten Bedingungen und kann mit der vorangehenden Ausdruckssequenz als Zeitspezifikation oder Ortsspezifikation interpretiert werden, so hat sie als Präpositionalphrase zu gelten.
- Erfüllt sie anschließende Nominalphrase alle unter 1. genannten Bedingungen, kann jedoch nicht als Zeitspezifikation oder Ortsspezifikation interpretiert werden, dann ist zu prüfen, ob sie zusammen mit unter anderem als Prädikatsspezifikation interpretiert werden kann - typisch hierfür: unter anderem Namen, unter anderem Vorzeichen. Ist dies der Fall und ist kein fokussiertes Element zu erkennen, hat die gesamte Sequenz als Präpositionalphrase zu gelten.
Verwendungen als Konnektor sind durchaus geläufig und können meist anhand der Position der Ausdruckssequenz identifiziert werden: satzeinleitend, unmittelbar vor dem finiten Verb. Nicht immer allerdings wird der Konnektor satzeinleitend platziert:
(die tageszeitung, 04.11.1987, S. 3)
In diesem Fall ist zu prüfen, ob sich die Ausdruckssequenz auf ein fokussiertes Element bezieht oder nicht. Ist dies nicht der Fall, liegt eine Verwendung als Konnektor vor. Kompetente Sprachteilhaber können dies prüfen, indem sie den Satz so umformen, dass unter anderem am Satzanfang unmittelbar vor dem finiten Verb positioniert ist. Ergibt sich dadurch kein erkennbarer Bedeutungsunterschied, handelt es sich um einen Konnektor. Sollte es hierbei aufgrund unzureichender Sprachkompetenz zu einer Fehleinschätzung kommen, hat dies keine gravierenden Folgen, denn zumindest die Geltungsbedingungen bleiben dieselben, unabhängig davon, ob unter anderem als Konnektor oder als fokusbezogene Ausdruckssequenz aufgefasst wird.
Wo die fokusbezogene Ausdruckssequenz am Satzanfang steht, ist eine Verwendungen zu Zwecken der Diktumsgraduierung stets daran zu erkennen, dass die Ausdruckssequenz sich nie unmittelbar vor dem finiten Verb befindet. Für alle anderen Positionierungen gilt, dass die Ausdruckssequenz keine Präpositionalphrase einleitet und dass sich auf ein fokussiertes Element bezieht.
vor allem
Die Ausdruckssequenz vor allem kann - wie unter anderem - auf vier verschiedene Weisen verwendet werden:
- als Präpositionalphrase:
- als einleitender Bestandteil einer Präpositionalphrase:
(die tageszeitung, 30.01.1996, S. 15)
- als Konnektor:
(die tageszeitung, 14.07.1988, S. 7)
(Neue Kronen-Zeitung, 26.07.1997, Frau als Chefin einer Diebsbande: 100.000 S Beute)
- als fokusbezogene Ausdruckssequenz zu Zwecken der Diktumsgraduierung:
(Mannheimer Morgen, 30.08.1989, Bei der Bahn mehr Personal im Zug)
(Berliner Zeitung, 17.10.1997, S. 16)
Verwendungen als Präpositionalphrase finden sich ausgesprochen selten und sind anhand ihrer Funktion als Ausdruck für eine Zeitspezifikation oder Ortsspezifikation zu identifizieren.
Auch Verwendungen als Bestandteil einer Präpositionalphrasen finden sich nur selten und sind anhand der Funktion - in diesem Fall der gesamten Phrase - als Ausdruck für eine Zeitspezifikation oder Ortsspezifikation zu identifizieren.
Verwendungen als Konnektor sind durchaus geläufig und können anhand der Position der Ausdruckssequenz identifiziert werden: satzeinleitend, unmittelbar vor dem finiten Verb.
Verwendungen zu Zwecken der Diktumsgraduierung sind, wo sie am Satzanfang stehen, daran zu erkennen, dass sie nie unmittelbar vor dem Finitum stehen, in allem anderen Positionen daran, dass sie keine Präpositionalphrase einleiten.