Nomen-Nomen-Komposita
Nomen-Nomen-Kompositum ist der im Deutschen sprachhistorisch älteste Kompositatyp: ahd. gotes poto, wintes brut . Es ist in seiner langen Geschichte zum morphologisch und semantisch variationsreichsten Wortbildungsprodukt geworden.
Morphologische Eigenschaften
Nomen-Nomen-Komposita können deutlich länger als alle anderen Wortbildungsprodukte sein und dadurch auf knappstem Raum extrem viele Informationen transportieren.
(Beispiel von Augst 2001, 210)
Vgl. ausführlicher Donaudampfschifffahrtskapitänswitwenversicherungsgesellschaftshauptgebäudeseiteneingangstür — Was ist das längste deutsche Wort?
Auch Okkasionalismen sind hier besonders häufig zu finden.
(Mannheimer Morgen 21.8.1985, 3)
eine Welle von Mutterwut
(Spengler 1991, 64)
Morphologisch gesehen ist der Einsatz nominaler Ersteinheiten weitgehend unbeschränkt. Es kommen nahezu alle Nomina in Frage.
Nomen + | simplizisches Nomen | nominales Kompositum | explizites Nomenderivat | Kurzwort |
Sauce | Nudelsauce | Bandnudelsauce | Jägersauce | Limosauce |
Vgl. auch Komposition mit Kurzwörtern.
Bei Konvertaten ist nicht zu entscheiden, ob es sich um das Basisadjektiv bzw. -verb oder die nominale Ableitung handelt: Ist zum Beispiel Startposition 'Position, aus der heraus man startet' oder 'Position am Start'? Handelt es sich also um die verbale Ersteinheit starten oder um die nominale Ersteinheit Start? Infinitivkonvertate wie das Starten werden als Ersteinheiten in Komposita offenbar gemieden.
Sonderfall: Klammerform
Für Nomen-Nomen-Komposita wird in der Forschungsliteratur mitunter der Sonderfall der sogenannten Klammerform angenommen: Bier(glas)deckel. Vgl. Klammerformen
Semantische Eigenschaften
Semantisch gesehen sind besonders die nominalen Komposita "schwarze Löcher mit unwiderstehlichem Deutungssog" (Heringer 1984: 10). Bedeutungsbeziehungen zwischen den Einheiten in Komposita müssen vom Hörerleser anhand verschiedener Indizien rekonstruiert werden:
Zum Beispiel haben Hundekuchen und Mandelkuchen dieselbe morphologische Struktur, sind jedoch üblicherweise semantisch nicht gleich zu interpretieren. Dagegen sind die semantischen Beziehungen zwischen Wörtern in Phrasen, die Vergleichbares ausdrücken, sehr viel klarer; die Beziehungen werden etwa durch Präpositionen festgelegt: Kuchen für Hunde, Kuchen aus Mandeln. Während in Phrasen die semantischen Relationen also meist deutlich sind, scheinen besonders nominale Komposita - mit Ausnahme von Rektionskomposita wie Frauenkenner - relativ frei auslegbar zu sein. So gibt Heringer (1984, 2) für das Kompositum Fischfrau Deutungen wie die folgenden an.
- 'Frau, die Fisch verkauft'
- 'Frau eines Fisches'
- 'Frau, die Fisch isst'
- 'Frau, die Fisch produziert'
- 'Frau, die kühl wie ein Fisch ist'
- 'Frau, die den Fisch gebracht hat'
- 'Frau, die bei dem Fisch steht'
Die Freiheit der Wortbildung ist jedoch zu relativieren, denn die Interpretation wird in der Regel durch den direkten Kontext gesteuert, in dem die aktuelle Bedeutung realisiert wird. Steht in einem Märchen und der Fisch und seine Fischfrau lebten glücklich und zufrieden, ist die Interpretation 'Frau eines Fisches' plausibel.
Darüber hinaus können Hörerleser auf ihr Weltwissen, auf den Kontext im weiteren Sinne zurückgreifen; sie können sich an Erfahrungswerten und der Logik von Zusammenhängen orientieren: Dass das als Hundekuchen Bezeichnete aller Wahrscheinlichkeit nach kein Kuchen aus oder mit Hunden ist analog Mandel- oder Rosinenkuchen, sondern ein Kuchen für Hunde analog Herrentorte, lässt sich aus Kulturspezifika schließen: In unseren Breiten werden normalerweise keine Kuchen aus Hunden angeboten.
Die Auswahl der Interpretationsmöglichkeiten eines Kompositums wird schließlich auch eingeschränkt, weil sich ein Hörerleser an die ihm geläufigen Komposita hält. Er wählt nicht aus allen potenziellen Interpretationen aus, sondern greift auf ein Inventar vorhandener Muster zurück. So ist ihm von Bildungen wie Hundekuchen, Herrentorte, Kinderschokolade das Muster 'B, das für A bestimmt ist, das von A konsumiert wird' bekannt, das - nach Prüfung des Kontextes - auch auf zuvor noch nicht gehörte oder gelesene Komposita wie Nilpferdkekse angewendet werden kann. Ähnlich beidenen sich Sprecherschreiber aus vorhandenen Mustern. Nicht nur der Wortschatz, nicht nur das Inventar der Wörter, sondern auch das Inventar der Wortbildungsmuster garantiert eine im Wesentlichen reibungslose Kommunikation.