Skopus und Fokus der Negation
So einfach die semantische Funktion der Negation im Allgemeinen zu beschreiben ist, so schwierig sind ihre Skopusverhältnisse. Hier wurde die Negation zunächst als eine Form der Geltungsmodifikation vorgestellt, die bewirkt, dass, was ihr Basisdiktum besagt pauschal als unzutreffend gelten kann. Das beschreibt durchaus korrekt den Skopus dieser Operation, doch offensichtlich ist dies nicht. Betrachtet man, wie Negationen im Ausdruck zu realisieren sind, ergeben sich zwei größere Schwierigkeiten:
- Es bleibt zu klären, was überhaupt als Basisdiktum einer Negation infrage kommt, denn, wie sich an den folgenden Beispiele zeigt, finden sich Formen der Diktumserweiterung, die einen weiteren Skopus als Negationen haben können und in besimmten Fällen sogar müssen.
(Berliner Zeitung, 10.08.1998, Leserbriefe, S. 13)
Hier befindet sich die Negation innerhalb einer Nominalphrase und dabei insbesondere innerhalb eines als Attribut fungierenden Relativsatzes, auf den ihre Wirkung beschränkt bleibt. Die Beschränkung zeigt sich, wenn man den Satz so paraphrasiert, dass der Skopus der Negation deutlich wird:
Während bei dieser Umformung die Geltungsansprüche erhalten bleiben, würden sie bei einer Umformung wie dieser entscheidend verändert:
(St. Galler Tagblatt, 05.05.1999, Ganz wie die «Grossen»)
Auch hier befindet sich die Negation innerhalb einer Nominalphrase, und allein diese befindet sich im Skopus der Negation. Da hier jedoch - anders als im vorhergehenden Beispiel - kein Satz als Attribut auftritt, könnte man vermuten, dass die Negation nicht nur zur Diktumserweiterung angewandt werden kann, sondern ebenso auf Argumente. Diese Vermutung ist durchaus korrekt, doch hat sie für die Einschätzung von Leistung und Skopus der Negation weniger ernsthafte Folgen, als man annehmen könnte, denn Argumente in Form komplexer Nominalphrasen sind im Grund nichts anderes als besonders kompakt formulierte Dikta, die eine Funktion im Rahmen der Konzeption von Propositionen zu erfüllen haben.
(Züricher Tagesanzeiger, 29.05.1996, S. 80)
Modalfunktion > Negation
(die tageszeitung, 19.01.1990, S. 2)
Diktumsgraduierung > Negation
Negation < Handlungsbezogene Kommentierung
- Negationsausdrücke können in Sätzen verschiedene Positionen in der linearen Abfolge der Ausdrücke einnehmen, und dies bleibt nicht ohne Auswirkungen auf die Bedeutung dieser Sätze. Es bleibt zu klären, welcher Art diese Auswirkungen sind und ob insbesondere der Skopus der Negation davon betroffen sein könnte.
Wie verschieden Negationsausdrücke positioniert sein können, zeigen diese Beispiele:
Negation folgt auf finites einstelliges Verb
(Züricher Tagesanzeiger, 24.11.1998, S. 71)
Negation in Form eines Quantifikativ-Artikels beim Subjekt
(die tageszeitung, 04.03.1998, S. 6)
Negation in Form eines Quantifikativ-Artikels beim Akkusativ-Komplement
(Mannheimer Morgen, 28.03.1998, Aus der Region)
Negation in Form eines Quantifikativ-Artikels vor einem Direktiv-Komplement
(ZEIT, 29.05.87, S. 43)
Negation in Form eines Quantifikativ-Artikels innerhalb einer Ortsspezifikation
(die tageszeitung, 04.10.1988, S. 19)
(Salzburger Nachrichten, 19.08.1992, Das Land des Regenbaumes)
Negation als Teil einer Frequenzspezifikation
(St. Galler Tagblatt, 30.08.1999)
Negation in Form einer rejektiven Konnektion
Die Schwierigkeiten bei der Einschätzung des Skopus der Negation rühren vor allem daher, dass sie ausdrucksseitig - nein ausgenommen - oft Phrasen zugeordnet ist, nicht selten sogar - reduziert auf einen einzigen Laut - einem Wort vorgeschaltet ist. Man könnte deshalb annehmen, ihr Skopus erstrecke sich ausschließlich auf das, was mit den entsprechenden Phrasen oder Wörtern zum Ausdruck gebracht wird. Dies verträgt sich jedoch in keiner Weise mit dem, was zur Wirkungsweise der Negation festzustellen ist. Wie sollte sich etwa die Negation beim folgenden Beispiel auf das Argument auswirken, das - ohne Negation - mit einen Helm zu formulieren wäre?
(St. Galler Tagblatt, 30.08.1999)
Gesagt wird damit nicht, dass die Sünder einen Nicht-Helm trugen - was immer das sein könnte. Gesagt wird vielmehr, dass es nicht zutrifft, dass sie einen Helm trugen. Das heißt: Der mit dem Basisdiktum entworfene Sachverhalt wird insgesamt als nicht zutreffend ausgewiesen. Wenn aber dieser Sachverhalt insgesamt als nicht bestehend gelten soll, wieso wird dann der Ausdruck der Negation an die Argumentphrase angebunden? Die Erklärung führt über eine genaue Betrachtung des Teils des Argumentausdrucks, mit dem sich der Ausdruck der Negation verbindet: über den Artikel. Dabei dürfte es kaum seiner Eigenschaft als Artikel liegen, dass sich der Ausdruck der Negation mit ihm verbindet, denn bei einem definiten Artikel käme es nicht zu einer solchen Verbindung:
Auch in der Indefinitheit des Artikels ist nichts zu erkennen, das auf besondere Affinität zur Negation schließen ließe. Die Charakterisierung als indefinit hebt auf anderes ab als das, was diesen Ausdruck für die Negation qualifiziert, nämlich seine Funktion als Existenzquantor. Die Existenzquantifikation ist ihrerseits eine Operation, in deren Skopus sich hier - die Negation ausgenommen - die gesamte Proposition befindet. In prädikatenlogischer Umformulierung wird dies deutlich:
Durch die Verankerung der Negation beim Ausdruck dieser Quantifikation kommt zum Ausdruck, dass sich diese Operation im Skopus der Negation befindet und mit ihr alles, was in ihrem Skopus befindlich ist. Da sich, wie in Negation und Quantifikation ausgeführt, in anderen Sätzen durchaus auch mal die Negation im Skopus einer Quantifikation befinden kann, ist nicht davon auszugehen, die Negation habe stets die gesamte Proposition eines Diktums in ihrem Skopus. Richtig ist jedoch, dass sich im Skopus einer Negation in jedem Fall eine Proposition - also mindestens ein Prädikat und seine Argumente - befinden muss. Diese Proposition muss nicht die Kernproposition eines Diktums sein. Es kann sich auch um eine Proposition in Argument- oder Modifikatorfunktion handeln:
(Spiegel 31/1991)
oder um eine Proposition, die attributiv im Dienst einer Deskription steht:
(Spiegel 31/1991)
Unter den Funktionseinheiten, mit denen elementare Dikta auszubauen sind, finden sich solche
- die im Skopus einer Negation stehen müssen
- die - wie die Quantifikation - sowohl innerhalb als auch außerhalb des Skopus der Negation stehen können
- die notwendig außerhalb des Skopus einer Negation stehen müssen
Welche Einheiten im Skopus einer Negation stehen müssen, lässt sich bestimmen, wenn man in Rechnung stellt, dass die Negation eine geltungsmodifizierende Operation ist und dass Quantifikationen einen weiteren Skopus haben können als die Negation: Es muss sich um Propositionsspezifikationen handeln, also um Ortsspezifikationen, Zeitspezifikationen und Umstandsspezifikationen. Es wäre aber eine Petitio principii, unsere Klassifikation hier zum Kriterium zu machen, denn sie beruht gerade auf der Auswertung von Skopusverhältnissen.
Wie sich die Skopoi von Negation und anderen Arten der Diktumserweiterung zueinander verhalten, kann so erhoben werden: Man beobachtet das Verhalten einer Operation bei Umformungen, die geeignet sind, Geltungsansprüche zu explizieren. Solche Umformungen sind ungelenk und sicher nicht in jeder Hinsicht bedeutungsgleich mit den in dieser Weise umgeformten Sätzen, aber sie lassen die fraglichen Skopusverhältnisse besser erkennen als die Originale.
Die allgemeine Form solcher Umformungen kann so aussehen:
Dabei ist in die erste Lücke der Ausdruck für den untersuchten Operator einzusetzen und in die zweite der Ausgangssatz ohne dieses Element - transformiert in sein subordiniertes Pendant. Ergibt sich dabei ein Satz, der - einigermaßen - akzeptabel und darüber hinaus geltungsgleich mit dem Ausgangssatz ist, kann man davon ausgehen, dass die entsprechende Operation den Rest des Ausgangssatzes in ihrem Skopus hat. Ist dies nicht der Fall, ist davon auszugehen, dass der Rest eine Operation umfasst, die ihrerseits weiteren Skopus hat.
Der Test besteht darin, die Negation im Rest zu belassen und, umgekehrt, die Negation herauszuziehen, um zu sehen, ob das mechanisch erzeugte Ergebnis formal akzeptabel und geltungsgleich ist. Ist es akzeptabel, doch nicht geltungsgleich, wird das Diktum identifiziert, dessen geltungsgleiche Umformung es bildet.
Negation und Propositionsspezifikation
Auswertung: Nur die erste Umformung ist akzeptabel und - im Wesentlichen - geltungsgleich mit dem Ausgangssatz.
Negation und Geltungsspezifikation
Auswertung: Beide Umformungen sind akzeptabel, doch nur die zweite Umformung ist mit dem Ausgangssatz geltungsgleich. Die erste Umformung ist eine Umformung dieses Satzes, wobei in mündlicher Rede etwas im weil-Satze kontrastiv betont sein sollte:
Negation und Geltungsrestriktion
Auswertung: Beide Umformungen sind akzeptabel, wobei nur die zweite Umformung mit dem Ausgangssatz geltungsgleich ist. Die erste ist eine Umformung dieses Satzes, wobei in mündlicher Rede etwas im wenn-Satz durch Akzentuierung hervorgehoben werden muss:
Negation und Modalfunktion
Auswertung: Beide Umformungen sind akzeptabel, doch nur die zweite) ist geltungsgleich mit dem Ausgangssatz. Die erste ist eine Umformung des folgenden Satzes, wobei in mündlicher Rede wahrscheinlich eine Kontrastbetonung erhalten muss:
Negation und Diktumsgraduierung
Auswertung: Beide Umformungen sind akzeptabel, doch nur die zweite ist geltungsgleich mit dem Ausgangssatz. Die erste ist eine Umformung des folgenden Satzes, wobei selbst im Fokus einer kontrastierenden Negation ist:
Negation und sachbezogene Kommentierung oder Wertung
Auswertung: Die zweite Umformung ist akzeptabel und geltungsgleich mit dem Ausgangssatz. Die erste hingegen ist nur akzeptabel in Verbindung mit einer Kontrastbetonung, also als Fall einer kontrastierenden Negation:
Negation und Diskursorganisatoren
Auswertung: Nur die zweite Umformung ist akzeptabel und geltungsgleich mit dem Ausgangssatz.
Negation und handlungsbezogene Kommentierung oder Wertung
Auswertung: In Schriftform erscheinen beide Umformungen akzeptabel, weil dabei kein Unterschied zwischen Konzessivspezifikation und handlungsbezogener Kommentierung oder Wertung zu machen ist. In mündlicher Rede ist zwischen solchen Kommentierungen und dem Basisdiktum eine erkennbare Pause einzuschieben. Eine handlungsbezogene Kommentierung oder Wertung kann dem Basisdiktum vorangestellt, parenthetisch eingefügt oder nachgestellt werden. Sie steht in jedem Fall außerhalb der Skopoi aller Operationen ihres Basisdiktums, weil sie zu diesen keine signifikante Beziehung aufweist.
Negation und Abtönung
Auswertung: Nur die zweite Umformung ist akzeptabel und geltungsgleich mit dem Ausgangssatz.
Die exemplarischen Ausführungen zu den verschiedenen Skopusverhältnissen sind, auf sich gestellt, sicher nicht beweiskräftig. Sie werden jedoch durch umfassendere Beobachtungen in den entsprechenden Abschnitten zu Propositionsspezifikationen, Geltungsspezifikationen usw. gestützt. Auf der Basis dieser Beobachtungen kann festgestellt werden:
- Propositionsspezifikationen können nur innerhalb des Skopus einer Negation auftreten. Die Geltungsansprüche, die mit einem Diktum einzubringen und durch eine Negation auszuschließen sind, lassen sich zwar an Bedingungen knüpfen jedoch nicht in zeitlicher oder räumlicher Hinsicht einschränken: Wenn es hier regnet, regnet es nicht unbedingt überall, doch die Feststellung, es regne hier, ist nicht nur hier, sondern überall wahr oder falsch.
- Geltungsspezifikationen haben weiteren Skopus als Negationen, es sei denn, sie werden kontrastierend gebraucht.
- Geltungsrestriktionen haben weiteren Skopus als Negationen, es sei denn, sie werden kontrastierend gebraucht.
- Modalfunktionen haben weiteren Skopus als Negationen, es sei denn, sie werden kontrastierend gebraucht.
- Diktumsgraduierungen haben weiteren Skopus als Negationen, es sei denn, sie werden kontrastierend gebraucht.
- Sachbezogene Kommentierungen und Wertungen stehen stets außerhalb des Skopus der Negation, was ihrem Charakter als Zusatzinformationen entspricht, die nicht in das eingreifen, was im Übrigen gesagt wird. Gleiches gilt für Weiterführungen, die hier nicht eigens berücksichtigt wurden.
- Diskursorganisatoren, handlungsbezogene Kommentierungen oder Wertungen sowie Abtönungen stehen außerhalb des Skopus der Negation, was ihrem Charakter als geltungsneutralen Diktumserweiterungen entspricht.
Mehr zum Stellungsverhalten von Negationsausdrücken findet sich hier:
Stellung der Negation im Mittelfeld