Kausalspezifikation
Zu den Grundüberzeugungen nicht nur der europäischen Kultur gehört, dass weitaus die meisten Sachverhalte nicht einfach sind, wie sie sind, sondern sich als von anderen zeitlich oder zumindest logisch vorgängigen Sachverhalte verursacht oder motiviert verstehen lassen. Sprachlich schlägt sich dies nieder in der Verfügung über Fragen nach Ursachen, Gründen, Motiven und über Verfahren zur vorwegnehmenden Beantwortung derselben.
Wissenschaftstheoretiker und Philosophen mag es obsolet erscheinen, so verschiedene Phänomene wie Ursachen, Gründe und Motive zusammenzufassen. Die Grammatik kann das tun, weil die sprachlichen Mittel und Verfahren in all diesen Fällen gleicher Art sind. Das belegen die folgenden Beispiele:
(Frankfurter Allgemeine, 1993)
(die tageszeitung, 25.09.1993, S. 1)
(Oberösterreichische Nachrichten, 13.07.1996, Nie mehr jung - nie mehr dünn)
Die Kausalspezifikation im ersten Beispiel kann man als Angabe der Ursache Sachverhalts auffassen, der mit dem Basisdiktum festgestellt wird, während im zweiten Beispiel ein Grund und im dritten ein Motiv bestimmt wird. Die jeweilige Einschätzung ist jedoch nicht an den sprachlichen Mitteln festzumachen. Sie beruht ausschließlich auf unseren Annahmen über die Verhältnisse in unserer Welt und ist mithin kein Gegenstand der Grammatik. Als Problem für eine kommunikativ-funktionale Grammatik kann hingegen gelten, welche semantische Wirkung eine Kausalspezifikation hat. Hierzu ist festzustellen: Kann ein Diktum im Aussage-Modus - hier als Standardmodus betrachtet - über eine Kausalspezifikation aus einem Basisdiktum abgeleitet werden, so impliziert es dieses Basisdiktum.
Damit ist allerdings noch nicht erfasst, was charakteristisch für die Kausalspezifikation ist, denn dies gilt gleichermaßen für alle Formen der Geltungsspezifikation. Man muss darüber hinaus versuchen zu zeigen, wie sich eine Kausalspezifikation auf die Verifikationsbedingungen auswirkt, die mit der Proposition und dem Wissensstatus eines Diktums gesetzt werden.
Wird auf ein geeignetes Basisdiktum eine Kausalspezifikation angewandt, ergibt sich ein Diktum, das zutrifft, wenn
- der mit der Basisproposition entworfene Sachverhalt besteht
- der mit der Kausalspezifikation ins Spiel gebrachte Sachverhalt besteht
- Sachverhalt (ii) zur Folge hatte, dass Sachverhalt (i) eintrat.
Ein Erkenntnisfortschritt wird mit dem Hinweis auf diese Bedingungen freilich nicht erzielt, denn an die Stelle der zu klärenden Kausalbeziehung tritt lediglich die nicht minder erklärungsbedürftige Folgebeziehung. Tatsächlich ist das Konzept der Kausalbeziehung so wenig zu hintergehen wie etwa die Konzepte der Röte oder der Dicke. Man kommt nicht umhin, auf Ausdrücke wie verursachen, folgen, weil, wegen, Ursache, Grund, Motiv zurückzugreifen, deren Bedeutung in diesem Zusammenhang aber nicht als bekannt vorausgesetzt werden darf, wenn man sich nicht im Kreis bewegen will.
Verschiedentlich wird versucht, einen kausalen Zusammenhang zwischen Ereignissen auf logische Beziehungen verbunden mit der Geltung von logischen Gesetzen oder Naturgesetzen zurückzuführen:
"A, weil B" wird dabei umgeformt zu "A und, wenn, bei sonst gleichen Bedingungen, B nicht gewesen wäre, nicht A".
Damit werden jedoch lediglich Fälle erfasst, in denen die Kausalspezifikation eine notwendige Bedingung für das Eintreten des Basissachverhalts formuliert, etwa so:
Wird hingegen - wie beim folgenden Beispiel - ein hinreichender, jedoch nicht ausschließlicher Grund formuliert, ist eine solche Umformung unzulässig, da unter den übrigen Bedingungen ohne jede Änderung ein weiterer hinreichender Grund gewesen sein könnte, der nur nicht zum Zug kam, weil der genannte überwog:
Was unter einer Kausalspezifikation zu verstehen ist, versteht, wer weiß, wie die einschlägigen Ausdrücke zu gebrauchen sind, und das muss im Wesentlichen ebenso gelernt werden, wie man lernt, was etwa rot, glitschig, frei, wahr bedeutet. Die Grammatik kann dergleichen nicht lehren. Sie beschränkt sich darauf, die Erscheinungen zu systematisieren.
Einschlägige Erscheinungen sind die:
- Verfahren der Kausalspezifikation
- Identifikation von Kausalspezifikationen
- Kombination von Kausalspezifikationen mit Diktumserweiterungen gleicher und anderer Art
Allgemein gilt: Kausalspezifikationen greifen nicht auf Werte in einer Dimension von Ursachen, Gründen oder Motiven zu, um diese auf eine Basisproposition anzuwenden. Was mit einer Kausalspezifikation als Ursache, Grund oder Motiv bestimmt wird, ist, auf sich gestellt, nichts von alledem. Es wird dazu erst, wenn es mittels eines geeigneten Operators zu einer Basisproposition ins Verhältnis gesetzt worden ist.
Die Verfahren der Kausalspezifikation
Kausalspezifikationen können im sprachlichen Ausdruck auf verschiedene Weisen realisiert werden:
(die tageszeitung, 08.09.1987, S. 2)
(Frankfurter Rundschau, 08.12.1997, S. 2)
(Frankfurter Rundschau, 031.10.1997, S. 2)
(St. Galler Tagblatt, 28.09.2001, Aus Turnraum wird Schulraum)
(St. Galler Tagblatt, 06.02.1998, Augenmerk auf Kinderbücher)
(Salzburger Nachrichten, 09.11.1998, Muß man neue Reifen einfahren?)
(Berliner Zeitung, 21.03.2000, S. 16)
(Roman Herzog, am 22.1.1994 in SDR3: Leute)
Auch die Ausdrücke für die Operanden dieser Spezifikatoren sind, wie die Beispiele zeigen, von verschiedener Art. Es handelt sich jedoch in jedem Fall um Ausdrücke für Propositionen. Man erkennt das daran, dass stets eine Paraphrase mit einem weil-Satz möglich ist, bei welcher der propositionale Charakter offen zutage tritt.
Hinsichtlich der Propositionen, die für die Zwecke einer Kausalspezifikation aufgegriffen werden können, gibt es keinerlei grammatische Beschränkung. Wird eine Kausalspezifikation wie etwa beim folgenden Beispiel als inakzeptabel betrachtet, ist das ausschließlich auf sachliche und nicht auf sprachliche Gründe zurückzuführen:
Kausalspezifikationen mittels Kausalsatz, Adverb und Präpositionaladverb sind - im Rahmen der unten aufgeführten Kombinationsbeschränkungen - grammatisch gesehen bei beliebigen Basisdikta im Aussagemodus oder einem der Fragemodi möglich. Für Präpositionalphrasen gilt dies nicht uneingeschränkt:
Wenn die offenbaren Gebrauchsbeschränkungen von aus, wegen und zuliebe jemals motiviert waren, so ist deren Motivation heute nicht mehr erkennbar. Es lassen sich jedoch Regularitäten entdecken:
- Aus tritt in Kausalspezifikationen ausschließlich mit Ausdrücken für Propositionen auf, die mit der psychischen Verfassung des mit dem Letztargument der Basisproposition gemeinten Individuums befasst sind.
- Zuliebe wird vorzugsweise mit Ausdrücken verbunden, mit denen auf Personen, Institutionen, Organisationsformen oder Umstände Bezug genommen wird.
- Wegen wird vorzugsweise gebraucht, wo Rücksicht auf Personen, Institutionen oder allgemeine Begleitumstände ins Spiel gebracht werden sollen.
Wie man sieht, lässt sich nur bei aus eine klare Ausgrenzung vornehmen. Umgekehrt ist kaum mehr festzustellen, als dass, was mit aus zu formulieren ist, nicht oder nur sehr schwerfällig mit anderen Mitteln zu formulieren ist.
Die Identifikation von Kausalspezifikationen
Als Leser oder Hörer erkennt man Kausalspezifikationen in erster Linie daran, dass sie mit Ausdrücken formuliert werden, deren Bedeutung sie auf eine Begründungsfunktion festlegt. Problemlos ist die Identifikation von Kausalspezifikationen allerdings nicht. Zwei Schwierigkeiten können auftreten:
- Manchmal ist problemlos festzustellen, dass ein in Frage stehender Ausdruck auf eine Begründungsfunktion hin angelegt ist, doch nicht unbedingt, dass dieser Ausdruck im Dienst einer Kausalspezifikation steht, denn propositionsbezogene Geltungsansprüche sind nicht die einzigen Elemente von Dikta, die Gegenstand von Begründungen sein können.
- In anderen Fällen gleichen die verwendeten Ausdrucksmittel formal Mitteln, die ganz andere Funktionen erfüllen können, und erst ein - in der täglichen Praxis freilich meist automatisiertes - Raisonnement führt zu einer Einschätzung als Mittel einer Kausalspezifikation.
Schwierigkeit (a) tritt vor allem bei weil-Sätzen auf:
(die tageszeitung, 24.04.1991, S. VIII)
(Die Zeit, 11.03.1995, Nr. 11, Was ist in deinem Kopf?)
Die spontanen Interpretationen sind hier nicht immer sicher, und normbewusste Sprachteilhaber werden die Beispiele nicht gleichermaßen für gutes Deutsch halten. Zumindest in mündlicher Kommunikation kommen solche Verwendungen von weil-Sätzen aber nicht selten vor. Grundsätzlich ist es möglich, in allen Fällen eine Kausalspezifikation des Basisdiktums anzunehmen. Manchmal gelingt dies allerdings nur um einen Preis, den man nicht ohne weiteres zahlen möchte: Man muss eine Welt zugrunde legen, in der bestimmte Sachverhalte aus recht seltsamen Gründen eintreten können, oder man muss sehr spezielle Rahmenbedingungen unterstellen. Normalerweise tun wir weder das eine noch das andere und nehmen eher an, dass die offenkundige Begründung nicht dem Basisdiktum selbst gilt, sondern dem Umstand, dass man zu einer bestimmten Auffassung neigt, oder ganz einfach verständlich machen soll, warum man unter den gegebenen Umständen sagt, was man sagt.
Wieso man welche Option bei der Interpretation eines weil-Satzes wählt, wird man nur in seltenen Fällen auf Anhieb angeben können, da die Wahl unter hinreichend klaren Rahmenbedingungen normalerweise unbewußt erfolgt. Wird die Interpretation einmal tatsächlich zum Problem, helfen grammatische Reflexionen nur insoweit, als sie zeigen, wo im semantischen Gefüge eines Diktums Begründungen überhaupt ansetzen können.
Die - mehr theoretische denn praktische - Schwierigkeit (b) tritt vorzugsweise bei Verwendung von Präpositionalphrasen auf:
Ob in einem gegebenen Fall eine Kausalspezifikation vorliegt oder nicht, ist allein auf der Grundlage von Welt- und Situationswissen zu entscheiden. Wo diese in seltenen Fällen nicht hinreichen, hilft es wenig zu wissen, dass in dieser Weise formulierte Kausalspezifikationen eine Paraphrase mit einem weil-Satz zulassen.
Kausalspezifikationen mit anderen Diktumserweiterungen und bei verschiedenen Modi dicendi
Kausalspezifikationen können, auch wenn sie mit formal verschiedenen Mitteln formuliert werden, im Prinzip ohne Einschränkung mit gleichartigen Spezifikationen koordiniert werden. Sie greifen dann parallel auf dasselbe Basisdiktum zu:
(Frankfurter Rundschau, 016.04.1998, S. 32)
In der Praxis wird die Zahl der so zu koordinierenden Kausalspezifikationen beschränkt durch das Fassungsvermögen von Hörern und Lesern.
Um einem Missverständnis vorzubeugen, sei darauf hingewiesen, dass eventuelle Widersprüche zwischen parallel vorgenommenen Kausalspezifikationen keineswegs zu Einschränkungen in ihrer Anwendung führen: Was sich dabei ergibt, ist ganz einfach falsch, aber deshalb nicht grammatisch abweichend.
Eine sukzessive Anwendung von Kausalspezifikationen ist nicht möglich, das heißt, als Basisdikta kommen nur solche Dikta in Frage, die nicht ihrerseits schon eine Kausalspezifikation umfassen. Wo Sequenzen von Kausalspezifikationen vorzuliegen scheinen wie etwa in den folgenden Beispielen , handelt es sich nicht um eine sukzessive Anwendung von Kausalspezifikationen, sondern um Spezifikationen im Rahmen von Spezifikationen, ein Verfahren, das auch bei der Attribution auftritt:
Kausalspezifikationen können mit Geltungsspezifikationen anderer Art kombiniert werden, doch sind dabei verschiedene Einschränkungen zu beachten:
- Im Skopus einer Kausalspezifikation können Geltungsspezifikationen jeder anderen Art auftreten - allerdings in der Regel jeweils nur einer Art.
Dass die Kausalspezifikation den weiteren Skopus hat, ist hier an der Positionierung zu erkennen. Die Spezifikation mit weiterem Skopus steht entweder weiter rechts als die in ihrem Skopus befindliche Geltungsspezifikation, oder sie steht im Vorfeld.
- Kausalspezifikationen können nur dann im Skopus von Kontrastivspezifikationen auftreten, wenn diese ihrerseits eine Kausalspezifikation umfassen, also gewissermaßen die Struktur duplizieren, auf die sie angewandt werden.
- Nur Finalspezifikationen und Konzessivspezifikation können mit Kausalspezifikationen explizit koordiniert werden. In Verbindungen mit Konsekutivspezifikationen, Substitutivspezifikationen und Kontrastivspezifikationen ist unmarkiert nur die Subordination einer der beiden Operationen möglich. Wird der Ausdruck der Kausalspezifikation jedoch durch eine Pause als Nachtrag markiert, können beide Operationen denselben Skopus haben.
- Wird eine Kausalspezifikation mit einer Finalspezifikation oder Konzessivspezifikation in dieser Weise kombiniert, sind beide Spezifikationen, sofern es zulässig wäre, sie explizit zu koordinieren, in der linearen Abfolge getrennt zu halten, da sonst die zweite Modifikation als Modifikation der Proposition interpretiert wird, die mit der ersten eingeführt wurde.
Die Kombination von Kausalspezifikationen mit geltungsmodalitätsbezogenen Modifikationen anderer Art, d.h. mit Geltungsrestriktionen, Modal- und Wahrheitswertfunktionen, Diktumsgraduierungen, unterliegt keinen besonderen Beschränkungen. Als Modifikationen des Modus dicendi werden Kausalspezifikationen vor geltungsneutralen Diktumserweiterungen aller Art wirksam und sind auch in dieser Hinsicht unbeschränkt anzuwenden.